Shards - Find Sound (2019)

Schluss mit lustig: „Find Sound“ von den Shards entführt gerne in spirituelle und kunstvolle Sphären, die oft ergreifend und schwermütig erscheinen.
Chormusik gehört im Rahmen der Pop-Musik nicht unbedingt zu den angesagten Themen. Vielfach werden damit auch Gospel- oder Shanty-Chöre assoziiert, denen das Image von provinziellem Mief oder mittelmäßiger Amateurhaftigkeit anhaftet. Aber es gibt auch ernsthafte Versuche, dem mehrstimmigen Gesang jenseits der Klassik Würde und Einzigartigkeit abzuringen. Die hippieske Großformation The Polyphonic Spree, die im Jahr 2000 in Dallas im US-Bundesstaat Texas gegründet wurde, war dafür ein schönes Beispiel und hatte damals im Indie-Pop auch ein gewisses Alleinstellungsmerkmal. Und jetzt sorgt der Sänger, Komponist und Produzent Kieran Brunt aus London mit seinen zwölfköpfigen Shards mit außergewöhnlichen Tönen für Aufsehen. Der gemischte Chor wird gelegentlich durch Synthesizer und Percussion ergänzt, widmet sich ansonsten aber durchgängig der Erforschung des Ausdrucks der menschlichen Stimme, um eine anregend-bezaubernde Wirkung auf das Gemüt hervorzurufen.
Die Idee zur Realisierung dieses Experiments reifte durch die Zusammenarbeit mit Nils Frahm für dessen letzte Veröffentlichung „All Melody“ (2018). Brunt legte bei der Besetzung seiner Klangkörper nicht nur Wert auf eine ausdrucksstarke Stimme, sondern auch auf eine starke Persönlichkeit der handelnden Personen. So kam es, dass in das Ensemble auch Komponisten, Instrumentalisten, Folk-Musiker und Lehrer aufgenommen wurden. Die reine Präzision und ein normierter Gleichklang standen nicht im Fokus der Arbeit, sondern das Aufzeichnen der Individualität der Teilnehmer und deren spannende Interaktionen. „Find Sound“ ist in zwei Wochen in einem abgelegenen Ort in den Hügeln von Piemont in Italien entstanden, wo die Shards unter einem Dach lebten und musizierten. Hier konnten sie unterschiedliche Aufnahmetechniken und diverse akustische Voraussetzungen ausprobieren. Letztlich kamen die meisten Stücke in einer zum Kunst-Maler-Atelier umgebauten Scheune und in einem 200 Jahre alten Weinkeller zustande.
Die vielschichtigen Schwingungen der menschlichen Stimme führen uns in exotische Gefilde, haben spirituelle Bezüge, wollen Vertrauen schaffen, lassen uns erstaunen, sind sphärisch abgehoben oder wirken wie stützende, aufbauende Muster. Der Eröffnungs-Song „Find Sound“ bildet quasi einen Querschnitt über die zu erwartenden musikalischen Herausforderungen: Konkrete Wortschöpfungen stehen neben abstrakter Lautfindung. Melodische Passagen grenzen an gesangliche Grenzerfahrungen und ruhige Momente betten exzentrische Ausbrüche mit ein. 
Für „Summer Sickness“ wird versucht, das merkwürdig taube Gefühl abzubilden, dass sich ergibt, wenn die Mitmenschen in Glück schwelgen, man selber aber von Sorgen und Nöten gefangen ist.


„Dissect“ scheint eine Denkpause zu verordnen. Diese Miniatur klingt wie eine Warteschleife, die zur Erholung des Geistes konzipiert wurde. 
Bei „Thoughts“ treffen überaus weiche Harmonien - die an das Markenzeichen der Singers Unlimited erinnern - auf einen Hintergrund von dunklen, Unheil verkündenden Synthesizer-Klängen.
„Beans“ wird von wabernden, elektronischen Klangwogen durchzogen, die sich unaufhaltsam steigern. Die Gesangsgruppe bahnt sich dazu mit verheißungsvollen, schwebenden Tönen nachdrücklich ihren Weg durch das geheimnisvolle Gebilde. 
Das kurze „Lost“ erscheint verloren, unheimlich und abstrakt wie der Gesang von nackten Seelen. 
Bei „Nebulous“ regiert ein nervöser Takt, der die Vokalisten beinahe ins Abseits drängt. 
Eine beschwörende Voodoo-Atmosphäre macht dann aus „Unrest“ ein in Phasen besessen klingendes Stück. 


Unbekannte Science-Fiction-Soundtracks und eine Ahnung von gregorianischen Gesängen bestimmen im Anschluss den Eindruck von „Inner Counterpoint“. 
Die in Endlosschleife zitierten Texte von „I Needed The Sun“ werden zunächst durch weiblichen Solo-Gesang vorgetragen, der sich dann zum Kanon verändert, um schließlich wieder als isolierter Vortrag zu enden. Die brummenden Orgelklänge, die gegen Mitte des Titels einsetzen, vermitteln Grabes-Stimmung, so dass der Track insgesamt sehr düster erscheint.
Trotz aller Ernsthaftigkeit, die den meisten Tondichtungen innewohnt, hat die Musik etwas Tröstendes. Die tragischen Phasen wirken nicht unbedingt deprimierend, sondern sorgen für die Möglichkeit der Konzentration auf das Wesentliche in der Musik: Ein Eindruck des Mit- und Füreinander entwächst dem Chorgedanken und die Akzeptanz des Ungewöhnlichen und Andersartigen resultiert aus dem vorurteilsfreien Umgang mit den starken, selbstbewussten, teils eigenartigen und eigensinnigen Stimmen. Die hier angebotene Kunstform spricht universell gültige, von Sprache unabhängige Emotionen an. So können sich Gegensätze wie Geborgenheit und Furcht stufenlos vermengen und wieder auflösen.
Die unmittelbare Konfrontation mit den ausdrucksstarken Sängerinnen und Sängern bringt das Hirn des Hörers womöglich in Unordnung, lässt es aber letztlich geläutert, angeregt und zufrieden zurück. Entsprechend ist das Album als Gesamtkunstwerk anzusehen. Die Reihenfolge der Stücke wurde mit Bedacht gewählt, um die Neugier auf den jeweils folgenden Song bis zum Schluss aufrecht zu erhalten. Die Musik ist seltsam, fordernd, theatralisch, Kraft verleihend, mystisch und betörend. Anspruchsvolle Hürden dürfen gemeistert werden und das führt im besten Fall zur Bewusstseinserweiterung oder vielleicht zur Ausweitung des Musikgeschmacks. Die Shards bieten aber zumindest interessante, spannende Musik für Menschen ohne Scheuklappen vor den Ohren an.

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