Another Sky - I Slept On The Floor (VÖ: 07.08.2020)

Wenn Konfliktbewältigung auf Kreativität trifft, kann eine neue Wahrnehmung entstehen.
 

Das 2013 gegründete Quartett Another Sky legt mit "I Slept On The Floor" nach der EP "Forget Yourself" aus 2018 endlich ihre erste lange Song-Kollektion vor. Die Band fand an der Goldsmiths University in London zusammen und besteht aus Jack Gilbert (Gitarre), Naomi Le Dune (Bass), Max Doohan am Schlagzeug sowie der Sängerin, Pianistin und Song-Autorin Catrin Vincent, die durch die Gründung der Kapelle den sie umgebenden Kleinstadt-Mief entfliehen wollte. In London geriet die junge Frau aber zunächst psychisch in einen Konflikt zwischen ihrem alten und dem neuen Leben. Die Verarbeitung der dadurch entstandenen Ängste und Zweifel spielten dann bei der Entstehung der Stücke eine gewichtige Rolle.

Besonders die Stimme der Frontfrau ist ein markantes Erkennungszeichen im Gesamt-Gefüge, denn sie lässt sich geschlechtlich nicht immer eindeutig zuordnen und sorgt so für Irritationen bei manchen Beobachtern. Nun sind es besonders diese androgynen Schwingungen, die für eine Besonderheit im Sound sorgen. Dabei ist es völlig unerheblich, wie und von wem sie erzeugt werden.

Die Musiker stimmen grundsätzlich nachdenkliche, grau gefärbte Töne an. Es ist jedoch nicht nur Traurigkeit, sondern auch Wut, was in die neuen Lieder eingeflossen ist. Gleich der Opener "How Long?" ist durchzogen von Brüchen, lauten und leisen Passagen sowie anheimelnden und verstörenden Klängen. Die Künstler sprechen davon, dass sie unter anderem durch "Spirit Of Eden" und "Laughing Stock" von Talk Talk beeinflusst wurden, was sich in den Anfangssequenzen des einleitenden Stücks durch schwebend-jazzige Töne widerspiegelt. Es folgen sich hervorhebende, spiralförmig drehende, schwirrende E-Gitarren in einem satten Rhythmus-Geflecht, die jäh abbrechen und einem erneuten Erblühen einer ruhigen Klang-Landschaft Platz machen. Danach setzt eine hohe Stimme ein, die hier wie die Vermenschlichung einer Klarinette klingt. Der unterlegte Hall verleiht ihr zusätzlich eine sakrale Wirkung.

"Fell In Love With The City" beginnt als schlaksig-stoischer Independent-Rock, der an solch dunkle Post-Punk-Kapellen wie Echo & The Bunnymen oder The Comsat Angels gemahnt. Und dann ist da wieder dieser auffallende, eigentümliche Gesang, der sich eindrucksvoll zurückmeldet. Dieses Mal sind auch tiefere Frequenzen zu hören, die - wie wir ja inzwischen wissen - auch in der Kehle von Catrin Vincent entstanden sind. Diese Kombination wirkt so, als würden zwei Seelen in einer Brust wohnen. So wird veranschaulicht, wie Konflikte akustisch dargestellt werden können. 

"Brave Face" weist die hektische Betriebsamkeit einiger New Wave-Stücke von Siouxsie & The Banshees und auch den beschaulichen, orchestralen Pop von Coldplay auf. Zwei Seiten einer Medaille? Another Sky machen diese Verbindung jedenfalls instrumental und gesanglich möglich.

Schrammelnde Gitarren sorgen dafür, dass das dramatisch-impulsive "Riverbed" stellenweise an U2 erinnert.

Seinen Schwung erhält "The Cracks" durch einen abgewandelten Bossa-Nova-Rhythmus, der den Track ausdauernd begleitet und bei verschiedenen Stimmungswechseln den emotionalen Schlingerkurs unterstützt.

Der künstlich verfremdete, gespenstisch-verdrehte Gesang erinnert beim kurzen Intermezzo "I Slept On The Floor" in seiner schmerzhaften intim-geschundenen Ausdrucksweise an Antony & The Johnsons. Die ohnehin schon seltsame Stimme wird für "Life Was Coming In Through The Blinds" manchmal technisch so aufgewertet, dass der voluminöse Eindruck eines Chores entsteht. Schwebeklänge mit und ohne rhythmische Unterstützung bilden über weite Strecken das Fundament der Komposition, die mit hypnotischen Minimal-Art-Einlagen angereichert wird.
 

Bemerkenswert, wie geschmeidig der Gesang bei "Tree" zwischen hohen und tiefen Tonlagen zirkuliert. Das verleiht dem Song einen Dynamik-Zuwachs, der instrumental noch durch den Wechsel zwischen intro- und extrovertierten Bestandteilen verstärkt wird.
 
Vielleicht haben die Sirenen in Homer`s "Odyssee" einst so verführerisch und fordernd gesungen wie Catrin für "Avalanche". Zumindest transportiert der pumpende, latent aggressive Track eine wilde Entschlossenheit, die Respekt einflößt.
 

Das Piano spielt beim relativ optimistischen "Let Us Be Broken" eine wichtige Nebenrolle. So dient es als Taktverstärker und spornt dazu an, das Licht am Ende des Tunnels schnellstmöglich zu erreichen.
 
Die schwermütige Ballade "All Ends" suhlt sich im Anschluss in traurigen, fein gesponnenen Tönen und mag so gar keine Zuversicht zulassen.

Zwischen Folk, Jazz und Romantik-Chanson bewegt sich dann "Only Rain", ohne dabei die klaren Konturen einzubüßen. Der Titel zeigt Haltung und biegt unverbraucht in die Zielgrade ein.
 
Another Sky haben versucht, im Rahmen ihrer Ausdrucksmittel ein möglichst vielfältiges Album zu gestalten. Nun lässt sich trefflich darüber streiten, ob Abwechslung oder Homogenität zu mehr Intensität geführt hätte. Fest steht jedoch, dass die eher unkonventionellen, wagemutigen Stücke auf  "I Slept On The Floor" einen stärkeren Eindruck hinterlassen. Aber hätten sie das auch getan, wenn alle Lieder extravagant gewesen wären? Oder hätte das eventuell zu einer Überforderung der Hörer geführt?
 
Alles Spekulationen. Unterm Strich bleibt ein überdurchschnittlich interessantes Dream-, Psycho- und Art-Pop-Werk mit vielen guten Ideen, etwas Hausmannskost und einer bemerkenswerten Sängerin. Es soll sogar schon etliche neue Aufnahmen für ein zweites Album geben, das noch stilübergreifender gestaltet werden soll. Man darf also gespannt sein, in welche Richtung sich diese interessante Formation entwickeln wird.

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