Lost & Found-Portrait: Brian Protheroe - Verfechter der Vielseitigkeit.

 
Als Schauspieler muss man in der Lage sein, andere Charaktere anzunehmen, quasi in die Haut einer fiktiven oder realen Person zu schlüpfen. Einen Musiker zeichnet es aus, wenn er in der Lage ist, Emotionen in Klängen und Texten glaubwürdig umzusetzen und er dadurch dem Hörer einen Spiegel seiner Seele und Erfahrungen vorhalten kann. 
Brian Protheroe | Diskographie | Discogs
Brian Protheroe, 1944 in Salisbury, England, geboren, kann beides. Mit 12 sang er im Kirchenchor und begann, Klavierstunden zu nehmen. Die Musik von Cliff Richard & The Shadows inspirierte ihn dazu, auch Gitarre zu lernen. Er trat 1961 einer Rock-Band bei und fing an, nebenbei Theater zu spielen. Musikalisch beeinflussten ihn u.a. Elvis, die Everly Brothers, Josh White, Big Bill Broonzy, Sonny Terry and Brownie McGhee, Dave Brubeck und Bach. 

1965 kam er als Mitglied der Folk-Band „Folk Blues Incorporated (FBI)" nach London. Ab 1966 wurde er Profischauspieler an verschiedenen Theatern. Hier traf er auf Martin Duncan, der ebenfalls Musiker, Songwriter und Schauspieler war. Diese Verbindung wurde sehr wichtig für Brians weitere Entwicklung. 

1973 schrieb er u.a. das Lied „Pinball" über seine damalige Lebenssituation („...And I feel like I' m in jail, and my music bores me once again, and I' ve been on the Pinball, and I no longer know it all, and they say that you never know when you' re insane..." ) („...Und ich fühle mich wie im Gefängnis und meine Musik langweilt mich schon wieder, und ich kam mir vor wie im Flipperspiel, ich kann mich nicht mehr an alles erinnern, man sagt, du merkst es nicht, wenn du verrückt wirst..."). Er spielte „Pinball" im Theaterstück „Death On Demand", als ein Talent-Scout des Labels Chrysalis auf ihn aufmerksam wurde. So kam alles ins rollen.
 
1974 erschien dann die erste LP („Pinball") und der als Single ausgekoppelte Titelsong kam bis auf Platz 22 der britischen Charts.

Als Bühnenschauspieler hatte Brian sein darstellendes Talent bewiesen, als Musiker schuf er fortan auf insgesamt 3 LPs intelligente, zeitlose Pop-Musik mit ausdrucksstarken Texten. Seine Musik hat die Jahrzehnte schadlos überdauert und klingt heute noch genauso frisch und faszinierend wie damals.

Im Mai 2006 erschien mit „Pinball & Other Stories" eine Retrospektive des Schaffens dieses fast vergessenen Künstlers.
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Und am 17. Juli 2020 wurde mit "The Albums 1974-76" eine Box mit den ersten drei Platten herausgebracht. Es wird also Zeit für eine Würdigung. 

Als Schauspieler hat Brian Protheroe sowohl Shakespeare-Rollen verkörpert wie auch in TV-Krimis, -Dramen und -Comedy-Sendungen mitgespielt. Ein Mini-Gastspiel hatte er im „Superman"-Film als Co-Pilot eines Passagierflugzeuges. Vielseitigkeit zeichnet ihn als Darsteller aus. 

Das trifft auch für seine Musiker-Karriere zu. Er verbindet die Tugenden Ideenfülle, Emotionalität und Eingängigkeit auf beeindruckende Weise. Kein Song gleicht dem anderen. Kein Stilmittel wird ausgeschlossen. Man könnte seine Musik als Art-Pop bezeichnen, wären da nicht auch Assoziationen an Variete, Vaudeville und Musical. Auch eine Zuordnung zum Soft-Rock würde Sinn machen, wären da nicht auch kraftvolle Ausbrüche und unkalkulierbare Wechselspiele in Melodik und Ausdruck. Man könnte ihn aufgrund seiner einprägsamen Melodien sogar dem Power-Pop zurechnen, wären da nicht die vielen außerhalb des Genres verwendeten Ausdrucksformen. 

Protheroe spielt so abwechslungsreich auf der Klaviatur der Popmusik, wie kaum ein Zweiter. Ohne Scheuklappen plündert, kreuzt und vermengt er Beatles-Harmonien mit karibischen Rhythmen. Folk mit Entertainment, Dramatik mit Romantik, den frühen Elton John mit Roy Harper oder die Ästhetik von Burt Bacharach mit der Verspieltheit eines Kevin Ayers. 

Zusammengehalten wird alles von seiner majestätischen, Raum-füllenden Stimme, die er elegant um die Noten windet. Ein Festival von Eindrücken umspült den Hörer und berauscht die Sinne. Die Arrangements scheinen das Raum-Zeit-Gefüge auszuhebeln. Zuordnungen zu Stilen, Strömungen, Moden und Trends sind unbedeutend. 

Was zählt, ist die Magie des Augenblicks. Popmusik wird als universelle Unterhaltungsmusik verstanden und umgesetzt. In der Wahrnehmung prallen Bekanntes und Unbekanntes zu einem neuen Höreindruck genussvoll aufeinander. Ein Kaleidoskop an Klangfarben wird ausgebreitet, wohlig und anregend zugleich. Gelobt ist, was Spaß macht und nicht abgedroschen ist. Wichtig ist die konsequente Umsetzung dessen, was inspirierte und inspirierende Musik ausmacht, so auch der Mut, ungewöhnliche Konzepte umzusetzen und der Wille und das Talent, Qualität abzuliefern. Was Frank Zappa für die Rockmusik ist, ist Brian Protheroe für den Pop, nämlich ein Nonkonformist und intelligenter Beobachter der Tradition und des Zeitgeistes. 

„Pinball & Other Stories" wurde remastered und ist chronologisch aufgebaut. Die CD beginnt mit dem Hit „Pinball", einem eingängigen Pop-Song mit starken Widerhaken und raffiniertem Dynamik-Aufbau. Es folgt das zwischen Beatles-Melodik und Bacharach-Eleganz angesiedelte Trennungs-Stück „Goodbye Surprise".
„Money Love" verbindet eine exotische Rhythmik mit einer zwischen Beschwörung und Besänftigung angelegten Melodie-Linie, über die ein Moog-Synthesizer wolkige Ergänzungen legt.
Über die Hälfte der Songs auf „Pinball & Other Stories" wurden in Zusammenarbeit mit Martin Duncan verfasst. So auch die Ballade „Changing My Tune".
„Fly Now" war Protheroes 2. Single. Es handelt sich dabei um einen berechenbaren Sing-Along-Pop. Nach eigenen Worten wurde das Lied durch Paul McCartney' s „Monkberry Moon Delight" inspiriert.
Das beim ersten Hören eher albern wirkende, mit Scat-Gesang versehene „Monkey" war als dritte Single geplant, dieses Vorhaben wurde aber verworfen.
Ich hätte für die Zusammenstellung von „Pinball & Other Stories" auf jeden Fall das geschmeidig fließende „Lady Belladonna"
und das hymnische „Interview/Also In The Limelight", welches durch einen milden Bosse Nova Einschub veredelt wurde, ausgewählt. Aber mich hat ja leider niemand gefragt... 

Vom 1975er Werk „Pick-Up" wurde mit „Enjoy It" einer der quirligsten Songs von Brian Protheroe ausgewählt.
Das folgende „Oh Weeping Will" ist ein verschachteltes, als Ballade beginnendes Lied mit überraschender Wendung. Als Brian das erste Mal aufgrund einer Promo-Tour in den USA war, schrieb er das unter die Haut gehende, mit gleißender Steel-Gitarre unterlegte „Running Through The City" (mit der programmatischen Textzeile: „I' m jetlagged and I` m weary and I miss my teddy bear..." )
sowie das psychotische „Hotel" (veröffentlicht auf „I/You" von 1976). 
„Soft Song" trägt seinen Namen zurecht. Eingeleitet wird das Lied von einem "Walk On The Wild Side"-Gedächtnis-Bass-Riff. Ein großartiges Streich-Quartett unterstützt die Sanftheit der Darbietung insgesamt sehr geschmackvoll.

Das Titel-Stück ,,The Pick-Up" bildet das Kernstück eines Dada-Kabarett-Stückes namens "KinoTata" von Martin Duncan (als Gimmick ist ein Stück gleichen Titels auf „Pinball" enthalten). Mittels Collage-Technik werden unterschiedliche Melodien und Rhythmen miteinander verbunden. Sogar Ausschnitte aus einer Opernarie und etwas, das nach Marschmusik klingt, ist enthalten. Entsprechend ausgefallen und vertrackt ist die Komposition auch: Verrückt, aber schön. 

Leider wurden „Scobo Queen", bei dem Chanson und New Orleans-Sound adaptiert und transformiert wurden, 

sowie „Cherry Pie" - ein auf- und abschwellender, energischer Song mit semi-Funk-Keyboards - nicht berücksichtigt.

„I/You" war dann 1976 die letzte LP für Chrysalis. Nachdem sich der Single-Erfolg von „Pinball" nicht wiederholen ließ, verlor die Plattenfirma das Interesse an Brian und steckte kein Geld mehr in die Vermarktung. Er war zu dieser Zeit schon wieder mehr als Schauspieler anstatt als Sänger tätig, legte aber noch mal eine starke Leistung ab (Ausnahme: Eine öde Version von Little Richards "Lucille", für das Musical „Leave Him To Heaven" aufgenommen). ,,Dancing On Black Ice" ist ein Musterbeispiel an kompositorischer Brillanz. Den Song beschreibt Brian als „dunkel und seltsam, ein wenig wie für David Lynch gemacht."
Aus der Cabaret-Show „Happy As A Sandbag" stammt der Titel „Never Join The Fire Brigade", welcher mich von der Stimmung her an „Yellow Submarine" von den Beatles erinnert.
Den Abschluss von .,I/You" bildet das eindringliche "The Face Is You'', das interessanterweise  als von Procol Harum inspiriert bezeichnet wird. Und tatsächlich: Am Schluss findet sich ein Streicher-Intro, das von „A Salty Dog" stammen könnte.

Vermisst werden auf „Pinball & Other Stories" das an James Bond-Film-Musik geschulte „Evil Eye" und das Kirmes-Musik einbeziehende, sechseinhalbminütige Mini-Drama „Battling Annie".
 
Produziert wurden alle Brian Protheroe-Alben brillant von Del Newman, der u.a. schon für Harry Nilsson, Elton John, Cat Stevens und Paul Simon gearbeitet hat. 

Die Zusammenstellung neigt sich mit 2 bisher unveröffentlichten Tracks dem Ende zu: „Thick And Creamy", auf einem 4-Spur-Gerät aufgenommen, hat natürlich nicht das Volumen früherer Aufnahmen, birgt aber den natürlichen Charme einer Demo-Aufnahme. Bubble-Gum-Sound trifft auf Folk-Sänger. Freak-Folk einmal anders definiert. 

Der Song „Cold Harbour" schwebt 30 Zentimeter aber dem Boden. Die alte Magie ist wieder da. Den Abschluss bildet die Single „Holyoke Hotel" von 2004, die durch Bonustracks auf LP-Länge gebracht wurde und auf einem Privatlabel erschien. Üppig arrangiert - da fällt einem Randy Newman ein - läuft Brian Protheroe wieder zu großer Form auf.
 
Brian Protheroe lebt und arbeitet bis heute in London. In großen Abständen gibt es in Form von Singles auch noch mal ein musikalisches Lebenszeichen. Zuletzt 2018 mit "Don`t Look Down" /  "Backaway (Remix)".

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