Grandbrothers - All The Unknown (VÖ: 15. Januar 2021)

 
Das Ungewöhnliche und Unbekannte hörbar machen, das sind nur zwei Komponenten, die bei der Musik des Pianisten Erol Sarp und des Produzenten und Software-Entwicklers Lukas Vogel eine Rolle spielen. Mit Hilfe von präparierten, verfremdeten Klavieren und diversen Misch- und Sound-Gestaltungs-Techniken haben sie mit Entdeckergeist ihr Klangspektrum für das gemeinsame dritte Album "All The Unknown" gegenüber den Vorgängern erweitert und sind deshalb ihrem bisherigen Prinzip, keine Elektronik bei der ursprünglichen Entstehung der Klänge einsetzen zu wollen, untreu geworden.

Zwei Flügel und ein Piano bilden die instrumentale Basis der Kompositionen. Dazu kommen jetzt noch Samples und Loops, die die Möglichkeiten des Duos erweitern, besonders im rhythmischen Bereich, wie der Sound-Tüftler Lukas Vogel betont. Die Klänge werden oft von Minimal-Art- und Klassik-Elementen durchzogen, wie schon der Opener "Howth" klar macht. Sich gegenseitig lockende, obendrein auftürmende und abschwellende Ton-Kaskaden sowie romantische Melodielinien verleihen dem Stück einen cineastischen Charakter, so dass man sich das Stück gut zur Untermalung von Naturfilmen vorstellen kann. 

Durch seinen geschmeidig tropfenden Rhythmus wirkt "What We See" wie ein Soft-Krautrock, der mit moderner Klassik geimpft wurde. Seitens der Schöpfer besteht eine Erwartungshaltung, wie mit dem Track umgegangen werden soll: ""What We See" ist eine Aufforderung, nicht immer dem ersten Eindruck den Vorrang zu geben, sondern sich auch Zeit zu nehmen für das, was zuerst verborgen liegen mag", gibt das Duo als Anregung mit auf den Weg.

"Umeboshi" ist ein knapp einminütiges Intermezzo, das atmosphärisch durch Space-Sounds nach den Sternen greift und "All The Unknown" verarbeitet kraftvoll-entschlossene Akkord-Wiederholungen, die dynamisch variiert und zugleich rhythmisch verstärkt werden. Dadurch tricksen die Künstler sozusagen die subjektiv wahrgenommene Zeit aus.

Das zweite Intermezzo "The Goat Paradox" basiert auch auf Minimal-Art-Abläufen, die sich ineinander zu verzahnen scheinen und "Four Rivers" bezieht belebend-hypnotische Einflüsse in den als Ausgangspunkt dienenden, unverfänglichen Pop-Rahmen ein. Der Track konserviert außerdem locker verspielten Jazz, wie er vom Tingvall Trio bekannt ist und hört sich deshalb an, als würde er Ausblicke in eine schillernde, erlebnisreiche Zukunft ermöglichen. Das hat die Wirkung von positiv gestimmter Corona-Bewältigungs-Musik, die gedämpft frohe Erwartungen zulässt.

"Shorelines" bewegt sich mit swingender elektronischer Grundierung frei schwebend über blühende Landschaften hinweg. Direkt in den Sonnenauf- oder -untergang hinein. Je nach Neigung. Das Stück dringt unaufgeregt und leicht fließend ans Ohr. Die Töne gleiten nahezu unbeschwert dahin, sie prickeln erfrischend leicht wie Soda-Wasser und haben gleichzeitig eine ausgleichende Wirkung. Das ist Gebrauchsmusik für eine friedvolle, aber nicht einschläfernde Untermalung. Durch Manipulationen wird das Klavier für "Auberge" teilweise zum Saiteninstrument umfunktioniert. Wolkige Klangwände sorgen dafür, dass die experimentellen Einlagen nur ein Nebenschauplatz bleiben und das Hauptaugenmerk auf eine phantasievolle Traumreise gelegt wird. 

Bei "Organism" sind perkussive Elemente dazu da, um eine aufmunternde Stimmung zu unterstützen. Das Stück baut seine Dynamik letztendlich durch laute und leise sowie schnelle und langsame Passagen auf, die sich ständig abwechselnDer Name ist bei "Silver" Programm: Flirrend blinken und klirren silbrige Piano-Akkorde, die von Bass-Spuren geerdet und im ständigen Taumel der scheinbar kontinuierlich wiederkehrenden Töne durch eine optimistische Haltung voran getrieben werden. 

Der Begriff Schwarzer Frost stammt aus der Seefahrt. Er bezeichnet die völlige Vereisung von Schiffen durch Nebel oder Nieselregen. Dieser Zustand kann im schlimmsten Fall dazu führen, dass ein Boot kopflastig wird und kentert. Ob der Track "Black Frost" dieses Phänomen akustisch nachbilden möchte, ist nicht überliefert, er beinhalt aber zumindest Tonfolgen, die kalt und frostig klingen. 

Bedrohlich und Unheil ahnend beginnt "Unrest", bevor ein mächtiger Bass die Situation klärt und dominant Macht demonstriert. Die Tasteninstrumente glätten danach die Wogen zugunsten eines kraftvollen, energischen Ablaufs, schaffen aber auch die Möglichkeit für besinnliche Momente. Der Raum scheint zu atmen, wenn "Mourning Express" ertönt. Pumpende Klänge verleihen der Komposition Leben und Bewegung. Die Keyboards verzieren ausgleichend und schwelgerisch, beeinflussen die sonstigen organisch anmutenden Anordnungen aber nicht wesentlich.

Für die Grandbrothers bedeutet "All The Unknown" in technischer und musikalischer Hinsicht ein gewichtiger Entwicklungsschritt. Im Rahmen der Pop-Historie ergeben sich allerdings einige Vergleichsobjekte: Die Sounds von Vangelis, Mike Oldfield, Pink Floyd oder Terry Riley liegen als Inspirationsquelle bewusst oder unbewusst in der Luft, finden aber in dieser Zusammensetzung einen neuen Nährboden. 

"All The Unknown" scheint ein Übergangsalbum zu sein, welches den Grandbrothers zwar alternative Möglichkeiten, aber noch keinen konkreten Leitfaden für die Zukunft aufgezeigt hat. Die Musik versucht einen Spagat zwischen Geduld fordernder und anregender Minimal-Art sowie süffig produzierten Klangobjekten, die angenehme, verträumte Gefühle auslösen. Dieses Vorhaben wird keine der beiden erwähnten Erwartungen gänzlich befriedigen, aber die individuelle Klasse der Musiker führt dazu, dass letztlich auch niemand von "All The Unknown" enttäuscht sein wird.

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