Steven Wilson - The Future Bites (VÖ: 29. Januar 2021)

Der Mann will in die Charts! Warum sonst sollte er einen dermaßen eingängigen Pop-Song wie "12 Things I Forgot" aufnehmen, wo er doch eigentlich als Progressive-Rock-Musiker, Produzent (z.B. für Anja Garbarek und King Crimson) sowie Ton-Techniker (z.B. Remix-Arbeiten für Jethro Tull und Yes) bekannt geworden ist? Verrat rufen die Einen, nachvollziehbare musikalische Entwicklung die Anderen. Betrachten wir mal, was das sechste Solo-Album des Porcupine Tree-Gründers so zu bieten hat.

"The Future Bites" gehört zum Typus eines Konzeptalbums, weil sich ein bestimmtes Thema durch die Song-Sammlung zieht. Nämlich der Umgang der Menschen mit dem Einsatz von Kommunikations- und Unterhaltungs-Technologien. Deren Nutzung birgt die Gefahr, dass sich Abhängigkeiten ergeben, aber die technischen Hilfsmittel können genauso zur Unterstützung der persönlichen Entwicklung dienen. Sie sind also Fluch und Segen zugleich. Wilson erklärt außerdem, dass wir nicht mehr von Politikern, sondern von Menschen, die Algorithmen schreiben und die unser Online-Verhalten manipulieren, regiert werden. 

Zu Beginn des Albums werden die Gegensätze unselbständig und selbständig kontrastreich als intim-schüchternes "Unself" sowie rockig-selbstbewusstes "Self" dargestellt. Es schließt sich das mächtig wummernde "King Ghost" an. Die Stimme führt abwechselnd entweder nüchtern erzählend oder zurückhaltend-melancholisch oder im leidenden Falsett durch das märchenhaft verschnörkelte Stück.
Das schon erwähnte "12 Things I Forgot" krempelt die Stimmung dann von düster auf sonnig um und zeigt ein Faible für erwachsene Song-Intelligenz, wie sie die Beatles und XTC vorlebten. Das ist großer, harmonisch anspruchsvoller Pop mit verführerischen Melodie-Linien in Ohrwurm-Qualität.
Bei "Eminent Sleaze" ist dann Schluss mit lustig. Die Komposition wildert ernsthaft und schweißtreibend im Soul- und Funk-Umfeld. Auf diese Weise kommt mit Hilfe eines klatschenden Chain-Gang-Taktes, frech wallenden Philly-Soul Geigen, einem extrovertierten Gitarren-Solo und frisch auftrumpfenden Chor-Sängerinnen ein mitreißender Schwung zustande.
Das wuchtige, mit Referenzen an "Sign O` The Times" von Prince ausgestattete "Man Of The People" würde in Händen eines weniger versierten Musikers wahrscheinlich peinlich und aufgeblasen klingen. Wilson kriegt aber die Kurve und bewahrt das Stück vor einem operettenhaften Kitsch-Kollaps.
Die Konsumkritik des zentralen Song "Personal Shopper" orientiert sich in seinen beinahe 10 Minuten Laufzeit an einem aufgeweckten elektronischen Groove. Wenn dann als Mahnung eine Einkaufsliste vorgelesen wird, agiert dieser allerdings auf Sparflamme. Dem Track schadet die Über-Länge nicht, weil viel Dynamik, Abwechslung und Bewegung drin steckt.
Der spritzige Rocker "Follower" gewinnt durch wildernde Synthesizer und eruptive E-Gitarren-Ausbrüche an Schärfe und erhält durch den abwartenden, seriösen Mittelteil eine erhabene Reife. Die sensibel-ausdrucksstarke Ballade "Count Of Unease" hinterlässt danach einen mysteriösen Eindruck. So als würde sie frei schwebend vorgetragen werden. 

Das ursprüngliche, sperrige Progressive-Rock-Korsett ist Steven Wilson längst zu eng geworden. Er nutzt die dort angesiedelten Möglichkeiten zur vielfältigen dynamischen Gestaltung und Abstufung allerdings immer noch gerne für seine Kompositionen, um ihnen Fülle und überraschende Wendungen zu verpassen. Diese Exkursionen werden jedoch verträglich, kompetent und mit Seitensprüngen in diverse Stilrichtungen vorgenommen, so dass sich das Ergebnis einer eindeutigen Kategorisierung entzieht. Seinen Hang zum Pathos hat Wilson jetzt noch wirkungsvoller als beim Vorgänger "To The Bone" von 2017 unter Kontrolle gebracht.

Gut so, denn auch deshalb bleibt der Künstler unberechenbar und kann seinen Wirkungskreis weiter ausdehnen. Grade im Pop-Bereich hat Steven enorm dazu gelernt, vielleicht auch wegen der Zusammenarbeit mit Tim Bowness bei No-Man. Das beste Beispiel dafür ist das schon ausführlich gelobte, exzellente "12 Things I Forgot". Das Stück ist enorm aufbauend sowie erfrischend und bohrt sich tief und nachhaltig in die Gehörgänge, dass es eine Freude ist. Aber auch Fans von komplexen, verschnörkelten Strukturen kommen auf ihre Kosten. Schließlich sollte Progressive-Rock dem Namen nach fortschrittlich sein und Fortschritte hinsichtlich seiner musikalischen Ausrichtung hat Steven Wilson definitiv gemacht. 

Jedenfalls haben die Songs weiter an Durchschlagskraft gewonnen und präsentieren sich überwiegend entschlackt und griffig. Ob Wilson nun in Richtung (Art)-Pop oder Groove tendiert, ist im Prinzip egal, denn das Ergebnis in Form von guten Songs zählt. Und in dieser Hinsicht gibt es auf "The Future Bites" keinen Mangel. Und als Arrangeur und Produzent ist der Engländer sowieso eine Klasse für sich. Entsprechend hervorragend klingt die Platte. Sie ist eine runde Sache geworden, bei der die stilistischen Ausflüge Sinn machen, durchdacht sind und nicht nur kommerziellen, sondern auch künstlerischen Gesichtspunkten dienen. 

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