Rhye - Home (VÖ: 22. Januar 2021)

 
Viel näher kann man mit männlichem Gesang einer femininen Ausstrahlung kaum kommen, als es Michael Milosh fertig bringt. Und dabei klingt bei ihm alles natürlich, sauber und unverkrampft. Der gebürtige Kanadier leitet seit 2010 als Sänger, Multi-Instrumentalist und Komponist die Geschicke der Formation Rhye, deren Besetzung den jeweiligen Gegebenheiten angepasst wird. Schönheit und Eleganz sind Qualitätsmerkmale, die bei der Entstehung der Musik eine besondere Rolle spielen. Der entweder entrückte oder rhythmisch betonte Sound wird sowohl von elektronischen wie auch mit akustischen Instrumenten gestaltet. Er wird dabei von Eckpunkten bestimmt, die sowohl im raumgreifenden Ambient-Klang wie auch im eleganten Smooth-Jazz und kuscheligen Soul-Pop zu finden sind.

"Home" beginnt mit einem "Intro" aus ätherisch-gregorianischen Gesängen, die sich anhören, als wären sie in einer Kathedrale aufgenommen worden. Das setzt überirdisch-spirituelle Akzente frei. "Come In Closer" bedient dann mit einem milden Disco-Beat weltliche Ambitionen. Der dafür vorgesehene platschende Takt führt ein Eigenleben und orientiert sich nicht an der sinnlichen Stimme, die zunächst ein langsames Tempo vorlegt, später aber dem Weckruf der aufblühenden, gut gelaunten Kaffeehaus-Geigen folgt. Insgesamt entsteht dadurch eine mondäne Aura.
Das lyrische, sanfte Werben um eine schöne Frau steht im Mittelpunkt des lässigen, gepflegten "Beautiful", wobei der erotisch-sehnsüchtige Gesang den lasziven Charakter dieses sowohl schmeichelnden wie auch stramm getakteten Electro-Pops noch zusätzlich betont.
Musikalisch tritt das Stück in ähnliche Fußstapfen wie das provokante "Sexy Boy" von Air.
"Safeword" wirkt luftig und leicht, ohne dabei belanglos zu klingen. Daran zeigt sich, dass diese Art von Easy Listening eine Kunstform und nicht nur eine unverbindliche Methode zur akustischen Berieselung ist. Der Titel vermittelt eine Unbeschwertheit, die ihn in die Nähe einiger Bossa Nova- oder Samba-Songs rückt. Dazu kommt gegen Ende noch der Einsatz von kribbeligen Geigen, die den Sound dezent auffrischen. Dagegen klingt "Hold You Down" klotzig und grob, auch wenn der Gesang zurückgenommen und distanziert eingesetzt wird. Rhye ist eben ein Verfechter von gegensätzlichen, sich reibenden Zuständen, wie immer wieder deutlich wird. Kitschig-billige, manchmal grelle 1980er Jahre-Synthesizer-Klänge erschaffen dann und wann künstlich erscheinende Töne, die sich gegen die engelsgleichen Chorstimmen absetzen. Das sind bizarre Momente, die bei diesem Track für kontroverse Innenansichten sorgen. 

Der Gesang bekommt beim tieftraurigen "Need A Lover" eine zu Herzen gehende, zerbrechliche Ausprägung und wird in ein genauso intim-introvertiertes, manchmal orchestrales Folk-Gerüst eingebunden. Die Akustik-Gitarren-Töne tropfen wie Tränen herab und das Piano ist der Freund, der in dieser Situation zu trösten versucht. Der Soul von "Helpless" hat dagegen eine moderne Fassade bekommen, saugt seinen emotionalen Nektar aber aus der Tradition des Southern-Soul der USA. So kann neben dem effekthaschenden, brachialen Rhythmus auch Gospel-ähnliches Flehen ausgemacht werden, was den Song vor einem sterilen Pro-Tools-Produktions-Tod rettet.
Mit einem ähnlich kräftigen Takt geht es bei "Black Rain" weiter. Wieder einmal gibt es einen deutlichen Kontrast zwischen dem kühlen, tanzbaren Elektronik-Einsatz und dem schmachtenden, gefühlsbetonten Gesang. Das Lied hört sich beinahe wie ein vergessener Track von Marvin Gaye`s Schlafzimmer-Soul-Album "Midnight Love" aus dem Jahr 1982 an. Das frivole Knistern der aufgedonnerten Stimmung hätte wahrscheinlich auch Prince gefallen.
Rhye verarbeitet auf dem neuen Album vermehrt Soul-Einflüsse. Bei "Sweetest Revenge" gibt es sogar Funk-Anklänge zu hören, die ganz stilvoll und nur da, wo sie einen Mehrwert an Erstaunen versprechen, eingesetzt werden. Da bleibt sogar noch Raum für romantische Ausflüge. 
"My Heart Bleeds" verfügt über einen harten Beat, der davon ablenken soll, dass der Track davon abgesehen weitestgehend in Kummer und Leid badet. Das Lied erzählt laut Milosh vom kollektiven Schmerz des Jahres 2020 und entsprechend monoton, abwartend und gedrückt ist die Grundstimmung.  
       
"Fire" kann als hypnotisch-trockene Ballade bezeichnet werden, die sich bei aller Gleichförmigkeit doch in den Gehörgängen einnistet, weil der innige Gesang und das einsame Klavier eine suggestive Sogwirkung ausüben. Swing-Rhythmen, Krautrock-Mechanik und der 49köpfige Danish National Girl`s Choir durchziehen dann das düstere, undurchsichtige "Holy". Dieses Geschehen geht in ein "Outro" über, welches den andächtigen Faden weiter spinnt und durch sakrale Gesänge Diesseits und Jenseits miteinander verbindet.

Die Titel der Alben von Rhye bestanden bisher immer nur aus einem zentralen Begriff: "Woman" (2013), "Blood" (2018) und nun ist "Home" der Schlüsselbegriff. Ein Zuhause bedeutet für Michael Milosh das Zentrum von Kreativität und Gemeinschaft. Lange Zeit war er allerdings ständig unterwegs und konnte dieses Gefühl nicht ausleben. 2019 fand er jedoch im Westen von Los Angeles - einem Landstrich, der von Bergen umgeben ist und an den Pazifischen Ozean grenzt - ein Haus, welches sich im Sinne seiner Erwartungen als perfekt herausstellte.

Nichtsdestotrotz hätte das neue Werk auch "Sex" heißen können, so verlockend-erotisch wurde es gestaltet. Die Musik lebt allerdings nicht nur vom Ansprechen körperlicher Reize und den Einflüssen aus Ambient, Pop, Jazz und Soul, sondern auch von extremen Kombinationen: Ausflüge in die geistliche Welt stehen neben dröhnenden Dancefloor-Bässen und leise Sequenzen neben stampfenden Takten. Einzige Konstante ist die durchdringend-sensible Stimme von Michael Milosh, die es schafft, jede musikalische (Ausnahme)-Situation auf sich zu lenken. 

Das Album bietet somit vielfältige, anregende Pop-Musik, die sowohl versunken-beherrscht, wie auch verführerisch-tiefgründig oder zupackend-energisch sein kann. Das Ergebnis ist stets genüsslich-intensiv und reiht "Home" als ein Referenzwerk im Umfeld der Easy-Listening-Ambient-Electro-Pop-Musik ein, weil es unversöhnlich erscheinende Aspekte harmonisch und intelligent zusammen fügt.

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