Black Sea Dahu - I Am My Mother

Fabeln sind Lehrstücke über menschliches Denken und Verhalten. Also besteht „I Am My Mother“ aus akustischen Fabeln.

In einigen Gegenden sind Fabelwesen tief im kollektiven Bewusstsein verwachsen. In Bayern ist es der Wolpertinger und in der Schweiz gibt es den Dahu, eine Art Gämse, die vorne kurze und hinten lange Beine hat. 

Die Schweizer Geschwister Janine (Lead-Gesang, Gitarre, Streichinstrumente), Vera (Gesang, Gitarre) und Simon (Gesang, Cello) Cathrein haben zunächst unter der Bezeichnung Josh Musik gemacht und 2012 ihre Platte "The Kids Of The Sun" herausgebracht. Ab 2018 firmierten sie sich um und leisten seitdem ihrem Schweizer Fabelwesen unter dem Band-Namen Black Sea Dahu Tribut. Nach "White Creatures" aus 2018 erscheint nun am 25. Februar 2022 das zweite Album "I Am My Mother".
Janine Cathrein
(Credit: Paul Maerki) 

Der Familienverbund, der durch Nick Furrer (Schlagzeug), Pascal Eugster (E-Bass) und Ramon Ziegler (Keyboards) ergänzt wird, fühlt sich in einem Gespinst aus drogenvernebeltem Psychedelic-Folk, exzentrischem Alternative-Rock und seltsam verschobenem Art-Pop wohl. Die gesangliche Ausdrucksform erinnert dabei in ihrer anrührenden Betroffenheit oft an Jeff Buckley oder Rufus Wainwright. Pearls Before Swine um Tom Rapp, Kevin Ayers, David Crosby und Midlake sind weitere Eckpfeiler, die die Einordnung des Sounds vorstellbar machen, aber dennoch die Wirklichkeit nicht gänzlich im Detail beschreiben helfen. Denn Black Sea Dahu sind eigen: eigensinnig, eigenartig, eigenständig.

Der Opener "Glue" beschäftigt sich mit dem Wert von Gedanken, Erfahrungen und Erinnerungen: Gedanken sind flüchtig, sie ändern sich durch emotionale Einwirkungen und Erfahrungen. Gedanken sind Leim, meinen Black Sea Dahu in "Glue". Auch Erfahrungen führen nicht immer dazu, dass der gleiche Fehler nicht noch einmal gemacht wird, sonst würde sich Geschichte nicht ständig wiederholen. Erinnerungen verblassen, können im Falle einer Demenz-Erkrankung sogar völlig verloren gehen. Der Song zu diesen Überlegungen gerät in einen seltsam torkelnden Walzer, wobei Traum und Wirklichkeit nicht mehr auseinandergehalten werden können. Der flehentlich-groteske, sich an der Grenze zum Nervenzusammenbruch bewegende Gesang verstärkt die bizarre, erschütternde Stimmung dabei noch.

Schwebeklänge versuchen, "Human Kind" die Bodenhaftung zu entziehen, aber ein stoischer, trockener und karibisch beschwingter Rhythmus arbeitet regelmäßig dagegen an. Gezupfte Akustikgitarren legen unterdessen die Basis für eine teilnahmsvoll-bedächtige Erzählweise. 

"One And One Equals Four" beginnt mit der Aussage: "Es gibt einen Ozean zwischen dir und mir, der nicht überwunden werden kann". Das beschreibt die ganze Tragik einer Liebesbeziehung, die vor einer Zerreißprobe steht. Entsprechend ist der Song ein Paradebeispiel für eine erschütternde Ballade, bei der das Innerste nach außen gekehrt wird. Dahinter verbirgt sich die Hoffnung, dass der Seelenstriptease Linderung verschafft oder vielleicht sogar zu einer Lösung der verfahrenen Situation führt. Das in Moll gestimmte Piano verströmt Trauer, der Gesang nimmt diesen Eindruck auf und windet sich mal gefasst, mal winselnd um die Noten. Nostalgische Streicherklänge erhöhen den Sentimentalitätsfaktor, aber ein abgespecktes, Becken-loses Schlagzeug und flatternde Flöten-Töne, die sich wie ein aufgescheuchter Vogelschwarm anhören, sichern den Track gegen den drohenden Abgrund ab. Aufflackernde psychedelische Gitarren- und Synthesizer-Klänge verschaffen nur einen kurzen, milden rauschhaften Trost, die Tristesse setzt sich ungeachtet dessen fort. „In meiner Welt gibt es kein 1+1=2! So einfach ist es eben nicht. Die Dinge gehen nicht auf, und ich versuche, das mit meiner Musik zu erzählen“, erklärt Janine Cathrein den Song-Titel, dessen Gleichung nicht aufgehen mag.

"Transience" vermittelt grüblerische Impressionen vom Tournee-Leben, bei denen die Sehnsucht nach dem Partner gegen die Liebe zur Musik hinsichtlich der Wertigkeit abgewogen wird. Die Musik erhält bei diesem Vergleich den höheren Rang. Eine folkloristische Akustik-Gitarre, sanfte Piano-Klänge, ein warm rauschendes Harmonium, eine aus dem Nichts erscheinende kompakte Rhythmus-Einheit, eine neugierig stichelnde E-Gitarre und eine Stimme, die um Vertrauen und Aufmerksamkeit wirbt, das sind die wesentlichen Bestandteile dieser würdig-erhabenen, pastoral anmutenden Musik.

"Make The Seasons Change" ist das lebhafteste Stück des Albums. Es schlüpft aus einem Kokon, bestehend aus jenseitig anmutenden Tönen und tritt mit schnell pulsierenden Takten ins aktive Leben ein. Auch der Gesang bricht aus der Melancholie aus, jubiliert, macht sich frei, gebärdet sich ab und zu sogar übermütig-wild und daher gerät das Stück zu einem Befreiungsakt aus dem Trübsinn, bei dem die E-Gitarren abschließend die weitere Richtung vorgeben: Vorwärts ins Licht.
 
"Affection" spielt romantische, klassische Klaviermusik gegen exotische Weltmusik in Verbindung mit Surf-Sounds aus, wobei alle Bestandteile ihre Daseinsberechtigungen haben und sich final betrachtet gegenseitig befruchten.

Der Name des Tracks "I Am My Mother" klingt erst einmal seltsam. Im Laufe des Textes versetzt sich Janine jeweils in eine andere Person aus der Familie und zeigt prägende Bezugspunkte der gegenseitigen Verbindung auf. Das vertrackte Stück dehnt den Begriff der Pop-Musik in Richtung Freak-Folk aus und gibt der bisherigen Klang-Palette somit noch eine weitere Orientierung mit. Neben Harmonie wird noch Zügellosigkeit und Spieltrieb kultiviert, so dass der Song durch diese Reibungspunkte originelle Reize absondert.

Was für ein interessantes Hör-Abenteuer, das sich zwar manchmal am Rande der Verzweiflung bewegt, aber dennoch eine inspirierende Wirkung entfacht, weil die Grautöne authentisch wirken und sympathisch verschroben unterfüttert werden. Die Deutung der Texte ist übrigens nicht immer klar in eine Richtung abzugrenzen. "I Am My Mother" ist eine Platte über Empathie, Akzeptanz und die Kunst, die Schönheit im nie endenden Tanz zwischen dem Hässlichen und dem Erhabenen zu erkennen. Es geht darum, seine Wurzeln und seinen Platz in einer Welt zu finden, die immer im Wandel ist. Es geht um Handlungsfähigkeit und Selbstermächtigung. Es geht um alle Arten von Beziehungen: Liebe, Familie, Gesellschaft… Aber im Grunde ist es ein leidenschaftlicher und offener Liebesbrief an die Musik", erklärt die Gruppe ihre Beweggründe.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Waiting For Louise - Rain Meditation

Jahresbestenliste 2023

Lesestoff: Pop steht Kopf