Black Country, New Road - Ants From Up There

Black Country, New Road können mit "Ants From Up There" einen enormen Reifeprozess nachweisen, der der Gruppe ungeahnte Möglichkeiten eröffnet.


Das Septett Black Country, New Road aus London veröffentlichte am 5. Februar 2021 ihr erstes Werk, das passenderweise "For The First Time" hieß. Fast auf den Tag genau ein Jahr später gibt es nun unter dem Titel "Ants From Up There" den Nachfolger zu diesem aufregend-ungestümen Erstlingswerk. Da stellt sich natürlich die Frage, ob die Newcomer-Band ihr Pulver schon verschossen hat oder ob sie qualitativ an die Leidenschaft des Vorgängers anknüpfen kann.

Mit dem "Intro" hinterlassen Black Country, New Road schon mal eine turbulente Einführung. Minimal-Art-Bläser-Sätze lösen Alarm aus, der Bass brummt angetan und das Schlagzeug wird kräftig bearbeitet, so dass alle Sinne geschärft und erregt sind.
"Chaos Space Marine" breitet dann über die wachgerüttelten Zuhörer und Zuhörerinnen ein Füllhorn an Einflüssen aus: Schräges Musiktheater, der smarte Pop-Charme von Devine Comedy, die seriöse Ernsthaftigkeit von David Bowie, die bei seinen dramatischen "Baal"-Aufnahmen von 1981 zu Tage trat, eine barocke Geige, ein Boogie-Woogie Klavier, rasante Balkan-Folk-Jazz-Wettläufe - alle diese Elemente spielen eine Rolle in der attraktiv-berauschenden Aufführung.
Der beschaulich-wohltuende, Bass-fundierte Dark-Americana-Sound von "Concorde" entwickelt sich unter Berücksichtigung von erzählerischen Verzögerungen langsam zu einem bewegten, lauten, fordernden, kniffligen Art-Rock, bei dem sich der Gesang von Isaac Wood allmählich vom leisen Flüstern zum entrüsteten Rufen steigert.
Unter niedergeschlagenem Gesang bäumt sich die pompöse Ballade "Bread Song" wiederholt dramatisch und wuchtig auf, um nach einem eruptiven Höhepunkt unter längerer Beteiligung eines klackernden und stampfenden Rhythmus endgültig in sich zusammenzufallen. Die Spannung ist dehnbar, über leise Sohlen wird sie langsam aufgebaut und schließlich am Köcheln gehalten.
Bekanntlich ist "Good Will Hunting" ein Drama, zu dem Matt Damon und sein Kumpel Ben Affleck ein Drehbuch geschrieben haben. Der dazugehörige Film kam 1997 in die Kinos, der Song hat aber inhaltlich nichts damit zu tun. Die Komposition beginnt wie das "Intro" mit einem kurzen Signalton, um dann bewusst eine etwas sperrige und ruckelige Wahrnehmung abzusondern, bei der sich sowohl der anarchische Blues eines Captain Beefheart wie auch der provokante Post-Punk von The Fall als Vergleiche anbieten.
Im Jahr 2020 wurden Black Country, New Road als Live-Stream dem Haldern Pop-Festival zugeschaltet. 
Bei dieser Veranstaltung entstanden die Grundlagen für das Stück "Haldern", das akustischen, modernen, freigeistigen Jazz mit Minimalismus und impulsiven Rock-Rhythmen vereint.
Das kurze Instrumental-Stück "Mark’s Theme" beginnt mit einem melodisch-selbstverliebtem Saxophonsolo, das in einen blumig-ästhetischen, sentimental veranlagten Kontext überführt wird, der keinen Raum für Krawall bereit hält. Die Komposition ist schließlich eine Hommage an den Onkel von Saxophonist Lewis Evans, der 2021 an COVID verstarb.
Auch "The Place Where He Inserted The Blade" ist jemandem gewidmet, nämlich Bob Dylan. Isaac Wood sagt dazu: "Ich fing an, dieses Stück als Antwort auf "I've Made Up My Mind to Give Myself to You" (aus "Rough & Rowdy Ways" von 2020) zu schreiben, bzw. wurde stark davon inspiriert. Das ganze seltsame, bluesige, entspannte Ding, bei dem alle Instrumente ineinander übergehen, hat mich sehr angesprochen." 
Feinsinnige Träumereien, die von Piano, Gitarre und Flöte in den Raum gehaucht werden, leiten "The Place Where He Inserted The Blade" sanftmütig und transparent ein. Der Song vermittelt ein Füllhorn an konträren Emotionen: Schmerz und Freude, Begeisterung und Niedergeschlagenheit, Mut und Unsicherheit gehören dazu. Isaac Wood singt so engagiert, als hinge sein Leben davon ab, möglichst überzeugend zu sein und er vermittelt seine Worte entsprechend gefühlsbetont, drastisch und dringlich.
Black Country, New Road bewegen sich auf einem Terrain, in dem sie ihre Schöpfungen selbstbewusst zu einer stolzen, verschwenderisch-überschwänglichen Kunstform erheben. Dazu gehört auch das neunminütige "Snow Globes". Das Stück verfügt über eine dreiminütige instrumentale Einführung, die mit einem monotonen Grund-Takt, unter ständiger Hinzunahme von Instrumenten, in den Hauptteil des Songs überleitet. Anschließend geht es kontinuierlich mit demselben Rhythmus-Prinzip weiter, wobei sich das Schlagzeug eine Weile frei bewegen darf, was der Komposition eine wohltuend-auffrischende Unruhe verleiht. Zum Ende hin gibt es versöhnliche Töne, die den Track gemächlich ausklingen lassen.
"Basketball Shoes" ist die Grundlage und Blaupause für das gesamte Werk, wie sich Isaac Wood ausdrückt. Über 12 Minuten lang hat sich das Septett Zeit gelassen, um dieses Epos zu zelebrieren. Solch einen Monster-Track würde man eigentlich unter "Progressive Rock" ablegen, ohne sich weiter darum zu kümmern, wäre er von übertriebenen Tempo-Wechseln und verschwurbelten Solo-Demonstrationen geprägt. Aber so einfach macht es uns das Musiker-Kollektiv nicht. Das Gebilde ist zwar verschachtelt und kompliziert, aber seine lyrischen Feinheiten und die stürmisch-wilde Energie löst es aus einer selbstgefälligen Sicht heraus und identifiziert Art-es als Punk. Spontanität siegt über arrogant-besserwisserisches Kalkül. Es lebe die Leidenschaft!

Kürzlich wurde bekannt gegeben, dass der Frontmann Isaac Wood - dessen honorige Stimme schon mal an Kurt Wagner von Lambchop erinnert, die Gruppe verlassen hat, um sich persönlich neu zu ordnen. Das geschah also noch kurz vor der Veröffentlichung von "Ants From Up There", die für den 4. Februar 2022 vorgesehen ist. Zweifellos hinterlässt er eine große Lücke, aber die britischen Alleskönner haben genug Format, um diesen Verlust auszugleichen. Die verbliebenen sechs Mitglieder (Tyler Hyde (Bass), Lewis Evans (Saxophon), Georgia Ellery (Geige), May Kershaw (Keyboards), Charlie Wayne (Schlagzeug) und Luke Mark (Gitarre)) haben zumindest angekündigt, dass sie weiter gemeinsam Musik machen wollen.

Die Band mag es gerne vielfältig und ausladend. Dennoch wird es bei "Ants From Up There" weder wirr und unausgegoren, noch gibt es Langeweile. Die Tracks wurden abwechslungsreich und fesselnd arrangiert und bieten deshalb jede Menge Entdeckungs-Futter an. Die Musik vermittelt den Eindruck, dass sehr viel Zeit mit der Abstimmung zugebracht wurde. Und zwar hinsichtlich des Ablaufs und der Wirkung der einzelnen Kompositionen aufeinander, sowie auch mit der Anordnung untereinander. Das Werk wirkt wie eine bewusst herausfordernd angelegte, kühne Inszenierung, die in 10 voneinander abhängigen Abschnitte unterteilt ist. "Ein sich wiederholendes musikalisches Motiv, das sich von "Intro" bis zum abschließenden "Basketball Shoes" durch das Album zieht, spielt eine Schlüsselrolle bei der Schaffung des Klebstoffs, der die Platte zusammenhält", kommentiert das Ensemble diese Annahme.

Das Album ist entspannter als sein Vorgänger. Die dort zur Schau gestellte Wut und der Drang zu Experimenten ist etwas in den Hintergrund geraten, obwohl es weiterhin vertrackt zusammengesetzte Song-Strukturen gibt. Liegt die ausgewogene Gestaltung eventuell daran, dass die Aufnahmen letzten Sommer in der Idylle der Isle Of Wight in einer harmonischen Atmosphäre stattfanden? Oder hat sich die Gruppe einfach nur musikalisch weiterentwickelt und suchte einen Sound, der mehr Entfaltungsmöglichkeiten bereithält? 

Wichtig ist schließlich das Ergebnis und das bringt einen Zugewinn. Die Band orientiert sich weiterhin nicht an Trends oder aktualisiert vordergründig Retro-Sounds, sondern beschreitet künstlerisch unabhängig im Teamwork erarbeitete Wege. Und das ist ein Gewinn für jeden, der an gewichtiger und gleichzeitig unterhaltsamer Musik interessiert ist. Black Country, New Road heben ab, um die Pop- und Rock-Musik zu revolutionieren. Ob sie unter den erschwerten Vorzeichen weiter durchstarten können, wird sich zeigen. Mit den neuen Songs präsentieren sie sich jedenfalls leidenschaftlich wie eh und je. Nur die Perspektiven haben sich verschoben, Aggression und Provokation sind nun nicht mehr die Hauptbestandteile in der Klangpalette. In Punkto Einfallsreichtum präsentiert sich das Ensemble mit "Ants From Up There" auch deshalb besonders überraschend, verwegen und originell - was will man mehr?

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