Jan Verstraeten - Violent Disco

"Violent Disco" von Jan Verstraeten hat wohl eines der unappetitlichsten Cover-Abbildungen aller Zeiten.


Bei der Wahl zum scheußlichsten Cover des Jahres ist der belgische Musiker Jan Verstraeten aus Gent also schon mal ganz weit vorn dabei, aber wie sieht es mit der Musik aus? "Violent Disco" ist eine orchestrale, intensive Angelegenheit geworden, die überhaupt nicht in die aktuelle Pop-Musik-Szene zu passen scheint, aber genau deshalb einen besonderen, unverbrauchten, erregenden Reiz besitzt.

Credit: Murielle Scherre

"Violent Disco" ist das erste Album von Jan Verstraeten. Bisher gab es außerdem noch die EP "Cheap Dreams" aus 2019. Das aktuelle Werk kann als prachtvoll ausgestatteter Art-Pop bezeichnet werden, es taugt aber genauso als stilvolles Vergnügen für Menschen mit Sinn für aufwändige Arrangements und überschwänglich-gefühlvolle Lieder.

Der Auftakt "Vampire In My Bed" hat einen Verwandten in "I Put A Spell On You" von Screamin` Jay Hawkins aus 1956. Bei beiden Stücken lässt sich durchaus eine ähnliche animalische Wucht und massige Opulenz vorfinden. Verstraeten verschafft sich durch seinen herausfordernd modulierten Gesang Respekt und erhöht dadurch seine Ausdruckskraft, weil er auch an den richtigen Stellen effektvolle Pausen setzt. Der Song nimmt den ganzen Raum ein, mit breiter Brust wirbeln selbstbewusst aufgeschichtete Ton-Wände durcheinander, als gelte es, die Vorlage für den nächsten James-Bond-Soundtrack vorzustellen. Das Zeug dazu hätte dieses wallende, bedeutungsschwangere Stück allemal.
Vom rauen, Rhythm & Blues gefärbten Breitwand-Pop geht es jetzt bei "Gone Gone Gone" zum elegant groovenden, gradlinig-unverkrampften Weltmusik-Pop über. Jan betätigt sich zuverlässig als erfahrener Entertainer und befriedigt sowohl 60s-Pop-Freunde wie auch Liebhaber des gepflegten Easy Listening-Sounds mit seinem lässigen, gewandten Gesang.
Dunkle Geigen-Wände, die sich um einen stoischen TripHop-Rhythmus winden, verbreiten bei "Cry Baby" eine unheimlich-bedrohliche Stimmung. Jan Verstraeten singt dazu, als stünde er kurz vor dem Nervenzusammenbruch, denn er klingt sowohl desillusioniert, wie auch der Verzweiflung nahe, wobei ihm jegliche Durchschlagskraft genommen worden zu sein scheint. Zusammengenommen ergibt sich durch die offensichtliche Hilflosigkeit ein gruseliges Gänsehaut-Gefühl.
Das Stück "Violent Disco" greift die im Vorfeld aufgebaute, gedrückte Gefühlslage zunächst auf. Im Hintergrund bahnt sich jedoch schon bald ein belebender Rhythmus an, der dann voll durchschlägt und einem brodelnden Samba-Takt Platz macht. Verstraeten behält seinen kühlen, bedächtigen Gesang jedoch meistens bei, verfällt auch mal ins Falsett und sorgt so für eine angespannte, aber nützliche akustische Auseinandersetzung.
"Ice Dreams" entführt zunächst in verträumte Klang-Landschaften, die nach heiler Welt klingen. Aber das Böse lauert beständig im Hintergrund, kündigt sich mit grummelnden Streichern an, ist auch bereit, das Kommando zu übernehmen, setzt sich aber nicht durch.
Das angsterfüllte Kind, das schon am Anfang von "Cry Baby" zu hören war, erzählt zu Beginn von "It`s Like A Movie" von schönen und schlimmen Traum-Erlebnissen. Verwitterte, trauernde Friedhofs-Töne, die aus den tiefsten Ecken und Winkeln der Seele zu berichten scheinen, prägen danach zunächst das Klangbild. Helle Glöckchen zeigen später ein Licht am Ende des Tunnels und wir hören nochmal das Kind, das verstanden hat, sich nicht von üblen Träumen einschüchtern zu lassen.
Die Brücke zwischen "It`s Like A Movie" und "Flu" bilden zarte E-Piano-Glockentöne, die sich wie eine Spieluhr anhören, aber wohl Schneefocken symbolisieren sollen. Der Track wird auf einem ausgeglichen-unaufgeregten Niveau weitergeführt, bis ein strammer Takt - der durch ein hart angeschlagenes Piano vorangetrieben wird - dafür sorgt, dass das Lied Fahrt aufnimmt. Dann wird sogar noch ordentlich Tumult erzeugt, aber der Song endet doch noch versöhnlich.
"Bad Bad Love" stellt sich als eine Verschmelzung eines Thriller-Soundtracks auf Basis eines Blues-Schemas mit einem unbekümmerten Pop-Songs heraus, wobei Geigen die zentrale Steuerungs-Funktion übernehmen. Erregung, Panik, Rausch und Entzücken machen sich breit und bringen die Sinne durcheinander.
"Hit Me Baby" ist eine Cover-Version von "Baby One More Time" von Britney Spears. Es bleibt bei der Neu-Interpretation allerdings kein Stein auf dem anderen. Die Spears-Teeny-Hymne bekommt durch Verstraeten einen ernsthaften Anstrich verpasst, ohne dabei in steife oder hölzerne Abläufe zu verfallen. Die Neuinterpretation zieht ihre Reize nämlich aus einer ereignisreichen Variation der Melodie, die jeglichen Kitsch vermeidet.
"Goodbye World" orientiert sich an einer Bündelung aus Broadway-Musical und Psychedelic-Pop, so dass sich das Ergebnis sowohl luftig-leicht wie auch kunstvoll-komplex anhört.
Die karge, schneidend-intime Piano-Ballade "Lover, I Wanna Be Forgotten" fällt aus dem ansonsten vollmundig konstruierten Rahmen der Platte heraus. Der Song demonstriert eine schneidende Sensibilität, die durch extravagante Einschübe noch schmerzvoller erscheint. Ein krönender, drastischer Abschluss unter eine bemerkenswert unkonventionelle Song-Sammlung.

Künstler wie Jonathan Jeremiah haben es vorgemacht, dass weitausholende, üppig arrangierte Pop-Musik doch in die heutige Zeit passen kann, obwohl Zeitgeist und Pop-Trends dagegensprechen. Aber das funktioniert nur, wenn die Songs mit Liebe zum Detail und originell komponiert und ausgeführt werden. "Violent Disco" ist eine ambitionierte Platte geworden, die einen bedeutenden Eindruck hinterlässt. Die Musik erfüllt eine Sehnsucht nach übermächtigen Tönen, die Körper und Geist umschlingen und in eine bessere (Traum)Welt entführen, welche von einer starken, gütigen Macht beherrscht wird. Die Arrangements erinnern an Soundtracks der 1950er und 1960er Jahre, die überschwänglich und heroisch waren, die das Gute gütiger und das Böse böser erscheinen ließen, als es die Bilder vermitteln konnten. Manchmal war deshalb sogar der akustische Eindruck stärker als die Story.

Solch eine durchdringende Wirkung erzeugt auch Jan Verstraeten mit "Violent Disco". Die neuen Songs zeichnet aus, dass sie sich nicht einer beliebigen zuckrigen Verzückung hingeben, sondern dass sie in der Regel einen widerborstigen Anteil besitzen. Das erhöht ihre Halbwertszeit: Kontroversen erzeugen Spannung und Spannung ist die Nahrung von attraktiv-bedeutender Musik. Somit ist "Violent Disco" ein Album, das noch lange im Gedächtnis bleiben wird. Da (ver)stört auch das scheußliche Cover-Foto nicht mehr.

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