Wild Rivers - Sidelines

 Mit der Erinnerung ans Erwachsenwerden gelingt Wild Rivers mit "Sidelines" auch erwachsen klingender Pop.

In diesen unruhigen Zeiten wäre es schön, wenn es Musik geben würde, die einen starken, aufrechten, mitfühlenden und wissenden Eindruck vermitteln könnte, welche gleichzeitig den Ohren schmeichelt und niveauvoll unterhält. Was, sowas gibt es tatsächlich und wird am 04. Februar 2022 der Öffentlichkeit präsentiert? Wild Rivers heißt das Trio aus Toronto, Kanada, das genau diese Erwartungen erfüllt und mit "Sidelines" ihr zweites Album nach "Wild Rivers" aus 2016 vorlegt. Die verarbeiteten Themen drehen sich bei der Rumpf-Besetzung von Khalid Yassein (Gitarre, Gesang, Klavier), Devan Glover (Gesang) und Andrew Oliver (Leadgitarre, Synthesizer) um das Erwachsenwerden, haben aber auch allgemeingültige Bedeutung, so dass neben einem weise-abgehangenen Pop, Rock und Folk für Genießer auch hilfreiche Denkanstöße abgeleitet werden können.  


Von besonders gebildeten Menschen erwartet man häufig, dass sie den totalen Durchblick haben und intellektuell die Welt, so wie sie wirklich ist, durchblicken und erklären können. Aber häufig sagen diese Leute: "Je mehr ich sehe, desto weniger weiß ich darüber". Das zeigt, wie komplex die Wirklichkeit sein kann und offenbart eine authentische Demut zu dem, was der menschliche Geist in der Lage ist zu erfassen und dem, was noch alles verborgen bleibt.

In "More Or Less" wird genau dieser Gedanke im Hinblick auf die Entwicklung vom unbekümmert agierenden Jugendlichen zum verantwortungsbewussten Erwachsenen aufgegriffen. Der Song transportiert zunächst Sehnsucht, die sich im geschlechterübergreifenden Duett-Gesang materialisiert, dann setzt ein straffer Rhythmus ein, der den Track aus der romantisierenden Ecke holt und mit der nackten, ungeschönten Realität konfrontiert. Ein E-Gitarren-Solo gibt kraftstrotzend die Richtung an und der Refrain "The More I See, The Less I Know About It" wird zum wegweisenden Mantra.
Wer ist dieser "Freund", der am Anfang von "Bedrock" beschrieben wird: "Ich habe diesen Freund, den ich gerne auf meinen Schultern trage. Er sieht mir sehr ähnlich. Ich hatte irgendwie gehofft, wir würden uns auseinanderentwickeln, wenn wir älter werden. Aber er wird furchtbar schwer." Handelt es sich um ein Geheimnis, welches nicht ans Tageslicht gelangen darf oder um ein schlechtes Gewissen, das belastend auf den Schultern liegt? Beides ist möglich, aber klar wird das nicht und das ist gut so, denn auf diese Weise bleibt die Geschichte angenehm rätselhaft. Der knackige Power-Pop, der dieses Mysterium begleitet, hätte auch ganz formidabel ins Repertoire von Tom Petty & The Heartbreakers gepasst.
Bei "Long Time" geht es darum, was der Anruf einer vergangenen Liebe auslösen kann. Der Verstand sagt dir, dass du darüber hinweg bist, deine Gefühle können dich aber in eine prekäre Lage bringen. Der Ausgang dieser Überlegungen bleibt hier im Ungewissen. Sängerin Devan Glover stattet die Ballade mit einem süßen Schmelz aus, der manchmal in schmalzige Gefilde abdriftet. Auf eine übertriebene Süße hätte gerne verzichtet werden können, denn der Song ist in den Passagen überzeugend, in denen er einen aufrechten Gemütszustand ohne besondere Hervorhebung ausdrückt.
"Stubborn Heart" offenbart melodische Qualitäten, welche an die Beatles oder an Fleetwood Mac denken lassen. Daraus machen Wild Rivers auch keinen Hehl: "Wir mögen es, unsere Lieblingsteile aus jedem Genre zu nehmen und sie zusammenzufügen und zu sehen, was funktioniert und was sich gut anfühlt", gibt Devan offen zu, wenn sie über die Beschreibung der Entstehung der Wild-Rivers-Kompositionen berichtet. Und ein guter Ohrwurm ist ein guter Ohrwurm und "Stubborn Heart" ist ein guter Ohrwurm.
Der in sich gekehrte und gleichzeitig auch rhythmisch aktive Country-Folk von "Amsterdam" spiegelt eine Stimmung wider, die Aufbruch und Umbruch offenbart. Im Lied geht es um eine Frau, die nach Europa ziehen wollte, um mit ihrem Freund keine Fernbeziehung mehr führen zu müssen. Eines Tages, aus dem Nichts, sagte er alles am Telefon ab. "Ich stellte mir all die Dinge vor, auf die sie sich gefreut hatte, und begann, einen Song aus ihrer Perspektive zu schreiben. Deine frühen 20er sind so ein hartes Übergangsalter. Du kommst aus deiner Jugend und wirst in die reale Welt verstreut, und es heißt untergehen oder schwimmen. Oft schmiedet man Pläne und stellt sich diese Realität vor, die sich nicht so entwickelt, wie man es erwartet hat, und diese Art der Verwüstung fühlte sich wie eine wirklich rohe und nachvollziehbare Emotion an, aus der ich schöpfen wollte", erzählt Songwriter Khaled Yassein über seine Song-Idee.
Ein Zweifel an der aktuellen persönlichen Situation und die Suche nach einer angemessenen, Glück verheißenden Lebensform bestimmen "Weatherman". Die Musiker fabrizieren rund um diese zwiespältigen Überlegungen einen eindeutig und klar strukturierten Pop-Song, der genauso gut ins Ohr geht wie "Stubborn Heart". Hit-Alarm!
"Untouchable" ist ein bedächtiger Folk-Song, der von Khalid Yassein zunächst sachte zur akustischen Gitarre vorgetragen wird. Als dann aber eine singende elektrische Gitarre, der herzschlagförmige Rhythmus und die wehenden Keyboards einsetzen, kommt Fleisch ans karge Ton-Gerüst und das Lied lebt ausdrucksstark auf. Wer denkt, es ginge jetzt erst richtig los, der wird enttäuscht: Das Stück wird keine 3 Minuten alt.
Gemischte Gefühle bestimmen "Better When We're Falling Apart". Eine Hass-Liebe zermürbt die beschriebene Partner-Situation und so kommt man zu dem Schluss, dass es trotz der noch zweifellos vorhandenen gegenseitigen Gefühle besser ist, sich zu trennen ("Wir sind ausgelaugt und drehen uns im Kreis"). Stimmungsmäßig wird das Lied ohne große emotionale Ausbrüche als cooler Soft-Rock abgewickelt und endet in einem abrupten Schluss.
Produzent Peter Katis (The National, Interpol, Sharon van Etten) lässt den Folk-Song "Neon Stars" so klingen, als wäre er im Freien am Lagerfeuer entstanden. Er hinterlässt einen Eindruck von Weite und Klarheit. Zwei Stimmen, eine akustische Gitarre und sparsame Fills einer E-Gitarre genügen, um die Luft knistern zu lassen. Die gegenseitige Zuneigung, die das Paar einmal verbunden hat, überträgt sich eins zu eins auf die Noten und lässt hoffen, dass sie wieder zueinander finden.
Noch intimer, flehender und voller Begehren läuft "Safe Flight" ab. Ein im Gegensatz zu den anderen Arrangements eher bombastisch wirkendes Klang-Spektrum versucht, sich über den Gesang zu stülpen, wird aber durch das schleunige Ende des Stücks davon abgehalten.
Danach breitet sich erbarmungslos Stille aus. Eben noch haben die Gefühle Purzelbaum geschlagen und nun wird man wieder auf seine eigenen Empfindungen zurückgeworfen. Das nennt man brutale Realität. Und um den Umgang mit dem wahren Leben handelt es sich ja schließlich auch bei diesem Quasi-Konzept-Album. Mit poetischen Texten, die den Bezug zur Umgangssprache nicht gänzlich verloren haben und mit Musik, die ihren Anker beim klassischen Pop-Song sucht, gelingt es den Musikern, ein Werk abzuliefern, welches einige zeitlos attraktive Lieder zu bieten hat. Die Stücke sind in der Lage, ihre stimulierende Wirkung authentisch auszubreiten. Und darum geht es doch eigentlich immer in der Pop-Musik.

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