Adam Miller - Gateway

"Gateway" beherbergt Meditationen, die von einem präzisen E-Gitarren-Spiel bildnerisch gestaltet werden. 

Ein Mann und sein Instrument. Das klingt genauso poetisch, intim und vom realen Leben isoliert wie "Der alte Mann und das Meer". Adam Miller war 2001 Gründer und Gitarrist des Electro-Pop-Trios Chromatics aus Portland, Oregon, das im August 2021 aufgelöst wurde. Er begann allerdings noch während seiner Chromatics-Zeit damit, die gesanglosen Tongedichte zu Hause einzuspielen: "Wenn ich mich in einem guten Arbeitsfluss befinde, starte ich meine Tage oftmals mit einer Gitarre in der Hand, schalte gedanklich ab und nehme auf, was auch immer in dieser Zeit herausströmt. Dies ist ein instinktiver Prozess. Ich achte während des Aufnehmens nicht wirklich darauf, was ich tue. Es sind die frühen Morgenstunden des Tages, in denen ich mich in meinem natürlichsten Schaffensprozess befinde - so habe ich über die Jahre festgehalten, was auch immer in diesen Momenten geschieht und eine Sammlung erstellt, der ich mich stetig bediene".
Aus 18 dieser Geistesblitze, welche zwischen 49 Sekunden und 4 Minuten 19 Sekunden lang sind und ursprünglich als Meditationen vorgesehen waren, wurde jetzt "Gateway" zusammengesetzt. Deshalb ist die Stimmung auch überwiegend träumerisch-verschwommen, die Melodien fließen sanft-harmonisch und die E-Gitarre wird sauber klingend angeschlagen. Ambient und New Age sind Zuordnungen, die das Album in etwa kategorisieren. Die Gitarren-Helden von Adam Miller findet man allerdings im alternativen Rock-Bereich (Vini Reilly von Durutti Column, Maurice Deebank von Felt, Robert Smith von The Cure) oder beim Krautrock (Michael Rother von Neu!).

Ganze E-Gitarren-Solo-Werke sind relativ selten in der Pop- und Rock-Musik. Man trifft sie schon eher im Jazz an (Joe Pass - Meditation: Solo Guitar (2002), John Abercrombie - The Jazz Sessions (2005), Kenny Burrell - Tenderly (2011)). Von daher ist "Gateway" ein ungewöhnlicher Schritt für einen Pop- und Rock-Gitarristen. 

Da die Kompositions-Skizzen in den frühen Morgenstunden entstanden, ist es möglich, dass sich Traumsequenzen aus dem Unterbewusstsein materialisiert haben, die zu den verklärten Klängen führten und jetzt in Opposition zu den sauberen Gitarrentönen stehen: Im Multitrack-Verfahren entstand nicht nur "Lost Guitar". Neben der kristallinen Melodiespur gibt es noch eine ähnlich helle Rhythmus-Ergänzung, lang ausklingende Bass- und wenige Schwebetöne. Diese charmant-unaufdringliche, aber auch unverbindliche Einleitung lässt völlig offen, was noch zu erwarten ist.
"The Lucky Star" klingt so, als wäre auch ein Text für dieses funkelnde Gitarren-Pop-Gebilde vorhanden oder zumindest geplant gewesen.
Die leuchtend-flimmernden Töne von "Glimmerlight" wogen ständig auf und ab. Diese Space-Sounds klingen wie Signale, die von außerhalb unserer Milchstraße stammen.
Bei "Consulate" reihen sich die akkuraten Laute wie Perlen an einer Kette auf. Das Tempo wird nach einer verschlafenen Phase noch kurzzeitig angezogen, gleitet sogar aus dem meditativen Bereich heraus, bleibt aber trotzdem besonnen. Es ist allerdings viel schwieriger, langsam zu spielen, als schnell, denn dann muss die Technik sehr korrekt sein, sonst fällt jeder Fehler auf.
"Hidden Entrance" gönnt sich einige Zeit, um sich auszudehnen. Es bleibt viel Platz zwischen den Noten erhalten und ein sphärisches Schwirren und Rauschen sorgt für entrückte Momente.
"The Names Of The Lost" schickt zu Beginn mit Hilfe von Science-Fiction-Movie-Sounds suchende Signale ins All. Die sich anschließenden Gitarren-Linien verlaufen stromlinienförmig und loten anscheinend den leeren Raum zwischen den Galaxien aus.
Mit "Night Bloom" wird ein langsames, vorsichtig tastendes Erblühen erschaffen, indem die wehenden Gitarren-Schwingungen allmählich merklich lauter und dichter erscheinen. 
Auch wenn "Libra" im Vergleich zu vielen anderen Tracks auf dem Album relativ lebhaft und rhythmisch aktiv ist, so umschleicht das Stück dennoch ein melancholisches Aroma.
Bei "Gateway" wiegt die Traurigkeit schwer, so dass die Komposition zwar ein paar erhellende Gitarren-Tonsplitter enthält, aber die Dunkelheit dennoch nicht verlassen kann.
"Voyeur" kombiniert sirrende Klänge mit nüchtern gezupften E-Gitarren-Tönen, so dass ein aparter Kontrast entsteht, wie ihn Steve Miller für "Fly Like An Eagle" angewendet hat.
Für "Blue Energy" erzeugt Adam Miller statische Tonkaskaden, die aus einem Synthesizer zu stammen scheinen und an die frühen Tangerine Dream- oder Klaus Schulze-Werke denken lässt.
Wer weich ausgepolsterte Progressive-Rock-Tondichtungen von Bo Hansson ("Music Inspired By Lord Of The Rings") schätzt und sich vorstellen kann, wie diese mit rauschhaft gedehnten The Cure-Kompositionen ("Pornography") zusammenpassen, der hat auch eine Vorstellung davon, wie "The Painted Boy" klingt.
Diese Ästhetik kommt auch bei "Hologram", dem mit 49 Sekunden kürzesten Stück auf der Platte, zum tragen, nur mit etwas mehr Tempo und Minimal-Art-Gleichförmigkeit versehen.

Der Zerfall passiert geographisch gesehen sehr langsam. Dieses Zeitlupen-Tempo deutet sich sinnbildlich auch bei "Erosion" an.
"Missing Time" klingt oberflächlich betrachtet wie eine Tonleiter-Übung, erzeugt jedoch durch seine Echo-Struktur eine hypnotische Wirkung.
"Window" hinterlässt den Eindruck einer Selbstbesinnung, die als Einleitung von epischen, lyrischen Progressive-Rock-Songs taugen würde.

"The Shared Dream", mit 4 Minuten 17 Sekunden das längste Stück des Werkes und "Alien Summer" haben melodisch-eingängige Pop-Song-Qualitäten, es fehlt natürlich der alles zusammenhaltende Gesang.
 

Musik sagt mehr als tausend Worte und deshalb kann auch Instrumentalmusik geistreich und ausführlich mit uns sprechen, wenn sie in der Lage ist, Assoziationen wachrufen und damit Eindrücke oder Geschichten in unserem Kopf zu erzeugen. Meditation steht als Motto über "Gateway" und lässt sich als Klammer für die hier abgebildeten Stimmungen heranziehen. Innere Einkehr oder die Sehnsucht, das unbekannte, unbegreifliche der kosmischen Weiten zu erkunden, schwingt als zusätzliche Motivation mit. Wer sich darauf einlassen mag, wird mit phantasiereichen Szenen, die kenntnisreich zum Leben erweckt werden, belohnt. "Gateway" fungiert somit als Tor zu unseren tieferliegenden Bewusstseins-Ebenen, kann diese frei legen, an die Oberfläche befördern und zu bewussten Tag-Träumereien werden lassen. Man muss sich nur auf solch eine Reise einlassen wollen, die Basis dafür wurde jedenfalls mit "Gateway" geschaffen.


Bonus: 

Adam Miller - Lost Guitar / Alien Summer-Video

“Als Kind der 80er- und 90er-Jahre war MTV meine Einstiegsdroge in eine schräge und wilde Welt. Als der Sender zum Ende der 90er hin sich immer mehr Richtung Reality-TV entwickelte, verlor ich das Interesse - bis Jesse Camp auftauchte. Endlich kehrte so die pure und verrückte Energie zurück zu dem Ort, der mich ursprünglich so faszinierte.


Als mein guter Freund Wes - mit dem ich die Liebe zu Musik-TV-Shows wie Headbanger’s Ball, Musikladen, 120 Minutes, etc. teile - vorschlug, ein Musikvideo in diesem Stil zu drehen, war ich sofort begeistert. Ich freue mich, auf diese Weise Jesse die Möglichkeit zu geben, zu dem zurückzukehren, für das er letztendlich geboren ist: mit einem Mikrofon vor der Kamera zu stehen und einfach er selbst zu sein.


Wir fanden die Idee einer Gegenüberstellung meiner minimalistischen Musik mit Jesses herausragender Persönlichkeit einfach superwitzig und ich hoffe, dass ihr das auch so seht. Eine leidenschaftliche Bitte an die Entertainment-Produzent*innen da draußen: Gebt Jesse eine eigene TV-Show mit Wesley als Regisseur. Ich wäre der erste Fan!”


Adam Miller über das Musikvideo zu “Lost Guitar” & “Alien Summer


“Es ist immer aufregend für mich, wenn Kunst einen präzisen und stark gesättigten Stil oder Thema besitzt. So hat es Spaß gemacht, ein “Fake”-Musik-Show mit Adam Miller zu entwerfen, welche von Sendungen inspiriert ist, die schon zuvor eine großen Einfluss auf unsere beiden Stile hatten. Beispiele wären da Top of the Pops, Musikladen und Max Headroom. Ich wollte, dass beide Songs im Musikvideo ihre eigene Personalität haben können und dennoch miteinander verbunden sind - während der Look der Show als Ganzes bestehen bleibt. Mein Freund Jesse Camp ist ein großartiger Host und braucht kein Drehbuch (nicht, dass er jemals eins nutzen würde, haha). Er war einfach perfekt für diese Cartoon-artige, technische Welt von einer Late Night Musik-TV-Show.”


– Regisseur Wesley Doloris



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