Mitski - Laurel Hell

Mit "Laurel Hell" verschafft sich Mitski eine kreative Möglichkeit, um Widersprüche zu verarbeiten.


Wenn jemand im Alter von Mitte zwanzig schon in über einem Dutzend Orte gelebt hat, dann gibt es aus den vielen Erfahrungen heraus bestimmt eine Menge zu erzählen und es hat sich eventuell eine eindeutige, stabile Weltsicht gebildet. Ein Beispiel für solch eine Biografie ist Mitski Miyawaki, die 1990 als Tochter eines amerikanischen Vaters und einer japanischen Mutter in Japan geboren wurde. Der Wunsch, sich als Musikerin beweisen zu wollen, blühte nach dem Abitur auf, das in der Türkei absolviert wurde. Erste Songs entstanden daraufhin. 
Credit: Ebru Yildiz

Während ihres Musikstudiums erschienen dann die ersten beiden Veröffentlichungen ("Lush", 2012 und "Retired In Sad, New Career In Business", 2013), welche orchestralen Piano-Pop mit Pathos beinhalteten und sich in etwa an Tori Amos oder Kate Bush orientierten. "Bury Me At Makeout Creek" zeigte 2014 eine aggressivere Seite unter der Einbeziehung von lauten, verzerrten Gitarren. Das vierte Studioalbum "Puberty 2" aus 2016 ergänzte den Sound um elektronische Elemente und präsentiert sich relativ ausgewogen zwischen intimer Zurückhaltung und aufmüpfiger Dringlichkeit.

Vor der Veröffentlichung von "Be The Cowboy" in 2018 warnte Mitski über soziale Medien und in Interviews allerdings ihre Fans vor dem Album, weil sie für dieses Projekt die Perspektive der Außenseiterin aufgegeben hatte. Nichtsdestotrotz scheute sich die Künstlerin nicht, ihre Klangwelt nochmals anzupassen und auf einen erhöhten Synthesizer-Einsatz zu setzen. Der Rock-Einfluss sank und der Pop-Anteil wurde angehoben. Und nun gibt es mit "Laurel Hell" ein waschechtes Synthie-Art-Pop-Werk mit Verweisen auf den 1980er-Jahre-Dance-Sound zu hören. Die Platte besteht aus Song-Beispielen, die Down- oder Up-Tempo genauso wie Zerbrechlichkeit und Freude berücksichtigen. Wer Vergleiche sucht: Joan As Policewoman oder Goldfrapp sind auf ähnlichem Gebiet zuhause.

"Laurel Hell" geht mit "Valentine, Texas" los. Der Song verbreitet eine sakrale Stimmung, der Gesang ist tieftraurig und die Synthies bauen mächtig rauschende und triumphierende Klangwände auf.
Der Ausdruck "Working For The Knife" gilt als Metapher für belastend-quälende Kräfte, welche zum Beispiel Krankheiten, das Alter oder der Kapitalismus aus Sicht von Mitski sein können. Dazu gibt die Musikerin folgenden Kommentar ab: "Es geht darum, von einem Kind mit einem Traum zu einem Erwachsenen mit einem Job zu werden, und das Gefühl zu haben, dass man irgendwo auf dem Weg zurückgelassen wurde. Es geht darum, mit einer Welt konfrontiert zu sein, die deine Menschlichkeit nicht anzuerkennen scheint, und keinen Ausweg zu sehen". Die Ballade zeichnet sich durch eine starke, von der Stimme emotional modulierte Melodie aus, die von bedrohlichen wie auch optimistisch erscheinenden Synthesizer Klang-Schwaden verziert wird. Ab und zu tauchen auch griffige Riffs einer elektrischen Gitarre im Klangbild auf, die dem bauschigen Tongemälde etwas Schärfe verleihen.
"Stay Soft" ist ein Plädoyer für die Empfindsamkeit und dafür, sich gegen alle Widerstände treu zu bleiben. Ein swingender Soul-Jazz-Groove sorgt in diesem Zusammenhang für optimistische Töne und aufmunternde Rhythmen.
Monotonie wird für "Everyone" zum vorherrschenden instrumentalen Stilmittel erhoben. Der Rhythmus läuft stoisch klopfend und tropfend ab, selbst die schwebend-surrende Hintergrunduntermalung vermittelt einen statischen Charakter. Mitski versucht verzweifelt, gegen den Trott anzugehen und transportiert mit ihrer Stimme etwas Leben und Wärme in diese unwirtliche, starre Welt.
"Heat Lightning" dreht sich um eine Form der Bewältigung von Partnerproblemen. Quälende Gedanken, die sich bei Schlaflosigkeit tief ins Hirn fressen, lassen Schwierigkeiten manchmal überdimensional anwachsen. Da hilft es, zum Selbstschutz - zumindest für die Nacht - vor den Schwierigkeiten zu kapitulieren, um Frieden zu finden. Das Stück beginnt tröstend, kleine Wallungen lassen kurz Furcht aufflammen, aber es bleibt überwiegend ruhig und bedächtig - wie bei einem Wiegenlied für Erwachsene.
"Ich brauchte Liebeslieder über echte Beziehungen, die keine Machtkämpfe sind, die man gewinnen oder verlieren kann. Ich brauchte Lieder, die mir helfen, anderen und mir selbst zu verzeihen. Ich mache die ganze Zeit Fehler. Ich will nicht den Eindruck erwecken, dass ich ein Vorbild bin, aber ich bin auch kein schlechter Mensch". So fasst Mitski ihre Motivation für die Entstehung von therapeutisch wirksamer Musik zusammen.

Bei "The Only Heartbreaker" wird die eben angedeutete schwerwiegende Grauzone beschrieben, die bei einer Trennung entstehen kann. Der Verlassene sieht sich als Opfer, die Person, die die Trennung beschlossen hat, wird vom Umfeld in der Regel als schuldig angesehen. Häufig liegt die Wahrheit über die Ursachen des Bruches irgendwo in der Mitte. In dem Lied geht es um die Person, die in den Augen der Öffentlichkeit die Beziehung zerstört hat. Unter einem stumpfen "Aerobic-Disco-Takt" entstand hier - mit nachdenklich-nüchternem Gesang unterfüttert - ein flotter Pop-Song mit unwiderstehlicher Ohrwurm-Garantie, der die Schuldgefühle, die im Text angedeutet werden, mit Optimismus kaschiert. Das ist bisher der einzige Song, bei dem Mitski einen Co-Autor hatte. Und zwar Dan Wilson, Gründungsmitglied von Trip Shakespeare und Semisonic, der auch "Someone Like You" gemeinsam mit Adele geschrieben hat. Mitski hatte sich festgefahren und schon einige Versionen von "The Only Heartbreaker" eingespielt, aber ihr fehlte die Überzeugung, sich für eine Variante zu entscheiden. Wilson half, die gedanklichen Knoten zu entwirren und einen gemeinsamen, schwungvollen Abschluss zu finden. Ob dabei vielleicht ein weniger auffälliges Rhythmus-Gerüst einen Mehrwert gebracht hätte, darüber lässt sich vortrefflich streiten.
""Love Me More" hat von allen Songs auf dem Album die meisten Änderungen erfahren. Es war mal zu schnell, mal zu langsam, und irgendwann war es sogar ein Country-Song im alten Stil. Schließlich, ich glaube, weil wir "Der Exorzist" gesehen hatten, dachten wir an Mike Oldfields "Tubular Bells" und experimentierten damit, ein Ostinato über den Refrain zu legen. Als wir das Ostinato immer weiter entwickelten, um es über die Akkordfolgen zu legen, begannen wir zu hören, wie der Track klingen sollte". Soviel zur Entstehungsgeschichte dieses Liedes, in dem es nicht vorrangig um eine Liebesgeschichte, sondern um die Folgen geht, die die Entscheidung, Künstlerin zu werden, für Mitski mit sich gebracht haben. Musikalisch bleibt der Track blass, hat einen zu eiligen Disco-Beat, so dass sich Gefühle in dieser Hektik nicht wohlig ausbreiten können, was auch zu einem Verstolpern der Melodie führt, die sich nicht richtig entfalten kann.
Auch "Should’ve Been Me" widmet sich der Untreue und betrachtet den Umstand, wie es ist, wenn alles versucht wurde, die Beziehung zu retten, dies aber trotz aller Liebe nicht gelang. Ein künstlicher Motown-Sound-Takt lässt den lockeren Pop-Song dann eher nach Phil Collins als nach den Klassikern der Supremes, der Four Tops oder der Temptations klingen.
"There’s Nothing Left For You" umweht die dunkle Färbung von "Streets Of Philadelphia" (Bruce Springsteen). Dem Song fehlt es trotzdem an ergreifender Tiefe, weil Mitski zu viel Süße in ihren Gesang legt und damit an Glaubwürdigkeit einbüßt.
"I Guess" behält sich vor, eintönig sein zu wollen, was - sofern es gewollt ist - ein mutiger Kunstgriff ist, der aber zu kontroversen Sichtweisen führen kann.
"That’s Our Lamp" hinterlässt keinen bleibenden Eindruck, weil das Lied wild-romantisch und belebend sein möchte, sich aber relativ ereignislos zwischen den mit wenig Durchschlagskraft dargebotenen, unterschiedlichen Gefühlsebenen verfängt.

"Laurel Hell" entstand während der pandemischen Isolation in Zusammenarbeit zwischen Mitski und ihrem Produzenten und Multiinstrumentalisten Patrick Hyland. Grundsätzlich wollten die Beiden ein stimulierendes, kontrastreiches Werk, das ernste Inhalte abbildet, erschaffen. Der Scharfsinn dieser Vorstellungen stellt sich durch Diskrepanzen innerhalb der Songs ein. Besonders bei den düsteren Liedern gibt es eine gewinnbringende Wechselwirkung zwischen melancholischem Gesang und strammem Rhythmus. Eine feierlich-herausfordernde Spiritualität, ausgelassen-belebende Party-Takte und eine sinnlich-begeisterte Pop-Sensibilität ziehen sich durch einige Stücke und sorgen dort für erquickliche Abwechslung. Gemäß des Album-Titels, der für ein undurchdringliches, gleichartig aussehendes Dickicht steht, versucht Mitski mithilfe von Klängen, die dieses Sinnbild reproduzieren, sich aus ihren gedanklichen Wirrungen, Konflikten und Widersprüchen zu befreien. So entstand Musik mit einer therapeutischen Wirkung für die Künstlerin, die auch für die Hörerschaft einigen Mehrwert zu bieten hat.

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