GILLIAN WELCH - BOOTS NO.1: THE OFFICIAL REVIVAL BOOTLEG (2016)

Vor 20 Jahren wurde der Country-Folk-Meilenstein „Revival“ veröffentlicht. Das wird jetzt mit einer Werkschau gefeiert, die 21 Aufnahmen aus der Entstehungsgeschichte enthält.


Sie geisterten zum Teil schon seit längerer Zeit als klanglich minderwertige Dateien im Internet herum. Jetzt sind sie offiziell und soundtechnisch bestmöglich aufbereitet erschienen. Die Rede ist von den Einspielungen, die zur Vorbereitung auf das Erstlingswerk „Revival“ der Americana-Sängerin Gillian Welch aufgenommen wurden und es letztlich nicht in dieser Form auf das Album geschafft haben. Darunter sind Demos, Outtakes und alternative Mixe. Einundzwanzig davon werden jetzt zum zwanzigjährigen Jubiläum offiziell vorgestellt.
„Revival“ hatte 1996 viele Americana-Anhänger verblüfft. Quasi aus dem Nichts kamen diese Lieder, die sich teilweise uralt anhörten, aber aus dem aktuellen Fundus der 1967 in New York geborenen und in Los Angeles bei Adoptiveltern aufgewachsenen Musikerin stammten. Viele Songs waren zerbrechlich, weise, melancholisch, spröde und durchtränkt von Liebe. Der abgeklärte, erfahrene, traditionsverbundene Gesang reibt sich dabei mit den verführerisch-schönen Melodien und den überwiegend gelassen-intimen Arrangements. Immer an Gillians Seite war damals schon ihr einfühlsamer musikalischer und privater Begleiter David Rawlings, der durch seine gefühlvollen Gitarren-Beiträge für weitere Gänsehautmomente sorgte.
Beim Hören der frühen Vorlagen erstaunt, wie klar schon die Vorstellungen über das Erscheinungsbild der Songs waren. Der für diese bodenständige Roots-Musik prädestinierte Produzent T-Bone Burnett, der z.B. den Soundtrack für „O Brother, Where Art Thou?“ betreute, brauchte später für die Fertigstellung von „Revival“ gar nicht oft eingreifen, sondern im Prinzip nur die ursprünglichen Vibrationen retten und seinen guten, verkaufsfördernden Namen einbringen, sowie für einen transparenten, klaren Sound sorgen.
„Orphan Girl“ und „Paper Wings“ sind bei den „Bootlegs“ jeweils als Demo-Version und Alternativ-Mix vorhanden. Dann gibt es noch fünf weitere Alternativ-Mixe, zwei Demo-Aufnahmen, einen Radio-Mitschnitt und neun Songs, die nicht für „Revival“ verwendet wurden. Die älteste Version ist ein Heim-Demo von „Orphan Girl“ aus 1993. Dieses liebliche, Folk-Stück wurde bei späteren Überarbeitungen noch weiter beruhigt und landete dann als voll entschleunigte Fassung auf dem Debüt. Emmylou Harris brachte die Komposition übrigens noch vor der offiziellen Zurschaustellung auf ihrem Werk „Wrecking Ball“ als flirrend-neblige Interpretation unter. Andere Tracks wie „Barroom Girls“, „By The Mark“, „Acony Bell“ oder das traurige „Annabelle“ - die Geschichte eines Farmpächters, der die Welt nicht mehr versteht, als seine Tochter stirbt - wurden in der puren Welch/Rawlings-Form übernommen.
Aber es gibt auch Unterschiede zwischen den „Bootleg“-Ausgrabungen und dem finalen Produkt: Der Slow-Blues-Boogie „Pass You By“ bekam im Endstadium noch mehr Schärfe verliehen. Die karge Schönheit, die bei der alternativen Version von „One More Dollar“ vorherrscht, wurde auf „Revival“ durch eine erweiterte Instrumentierung in ein strahlendes Licht überführt. Und die bisher bekannte Variante von „Paper Wings“ ist um einiges gespenstischer geraten als der erste dokumentierte Versuch. Gillian zeigt sich darin als galante Country-Swing-Sängerin und kann hinsichtlich des Timings solchen Jazz-Diven wie Melody Gardot ernsthaft Konkurrenz bereiten. Als Anpassung bekam „Tear My Stillhouse Down“ gegenüber dem Heim-Demo noch eine Roots-rockige Aufwertung verpasst.
Besonders lohnenswert sind für Fans natürlich die Outtakes. So wie die zu Tränen rührende Robert Earl Keen jr.-Cover-Version von „Go On Downtown“, zu der es mit „I Don’t Want To Go Downtown“ auch einen gleichwertigen Antwort-Song auf dieser Zusammenstellung gibt. Den coolen Rocker „455 Rocket“ führte die Country-Musikerin Kathy Mattea 1997 zu Hit-Ehren und der Mountain-Folk „Red Clay Halo“ wurde in naturbelassener Form auf Gillian Welchs drittem Album „Time (The Revelator)“ von 2001 verwendet.
Da „Revival“ im Laufe der Zeit nichts von seiner Anziehungskraft verloren hat, sind die „Bootleg“-Aufnahmen eine sinnvolle Ergänzung für Fans oder eine lohnende Gelegenheit, die Künstlerin neu zu entdecken. Es wurde Zeit, dass sich jemand um die Erhaltung des auf Analog-Tapes vorhandenen Materials kümmert, denn durch die lange Lagerung wird die Qualität nicht besser. Trotz gewissenhafter Überspielung können schon kleinere Schäden bei der Sound-Qualität wahrgenommen werden (z.B. bei „Paper Wings“). Um die Veröffentlichung der anderen Archiv-Schätze wird sich deshalb zügig weiterhin der Archivar Glen Chausse kümmern.
Kaum zu glauben: Gillian Welch war als Twen tatsächlich Mitglied in einer Psychedelic-Surf-Rock-Band. Als sie dann allerdings Bluegrass-Musik hörte, kam dies einer Offenbarung gleich und krempelte ihr Musikverständnis nachhaltig um. Gut so, denn wer sollte uns sonst diese natürliche, mitfühlende, erhabene und ausdrucksvolle Musik servieren?

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