Squid - Bright Green Field

 
Es gibt sie also doch noch, diese Alternative-Rock-Bands, die unbeirrt von angesagten Trends und kommerziell vielversprechenden Moden versuchen, sich durch ungewöhnliche Ideen von der Masse abzusetzen. Nach dem kraftvoll-wilden "For The First Time" von Black Country, New Road vom Februar 2021 bringt jetzt das Quintett Squid mit "Bright Green Field" einen ähnlich ungestümen Brocken heraus. Squid wurde 2010 im englischen Brighton gegründet und erspielte sich durch energischen, kantigen Post-Punk einen hervorragenden Underground-Insider-Ruf, der ihnen schließlich einen Plattenvertrag beim auf elektronische Musik spezialisierten Warp-Label einbrachte. Am 07. Mai 2021 erscheint dort das erste Album, nachdem die Band bisher lediglich etwa ein Dutzend Singles veröffentlicht hatte.

Und so hört sich "Bright Green Field" an: Nach einer blubbernd, kratzigen Industrial-Sound-Loop-Einleitung ("Resolution Square") macht die Gruppe mit "G.S.K." eindeutig klar, wie sie den Rock & Roll-Himmel definiert: Der Bass lässt die Därme vibrieren, das Schlagzeug schleudert harte, kurze Salven ins Publikum, die sich anhören, als hätte sie eine mächtige, metallverarbeitende Maschine erzeugt. Der Sänger Ollie Judge, der gleichzeitig Schlagzeuger ist, ruft, schreit und wütet dazu völlig ungeniert mit einer Stimme, die weder schön, noch voluminös oder einzigartig ist. Aber in seiner Intensität und Durchschlagskraft ist sie genau richtig, weil sie provokant und leidenschaftlich auf den Punkt kommt. Sie rüttelt auf, fällt auf und sorgt für ungeteiltes Aufsehen. Ollie wütet so ähnlich, wie es John Lydon bei P.I.L. getan hat und er nörgelt wie Mark E. Smith von The Fall. Punk ist nicht tot, er hat nur in letzter Zeit etwas streng gerochen, weil er oft ranzig und behäbig geworden ist.
Auf solch eine schräge und freche Type wie Ollie Judge scheint die Bewegung gewartet zu haben, um in veränderter Form wie Phönix aus der Asche auferstehen zu können. Um den Tumult noch weiter anzustacheln, bläst außerdem noch das scharfe Saxophon von Lewis Evans (von den bereits erwähnten Black Country, New Road) unverschämt angriffslustig dazwischen. Das Instrument wartet aber auch wie ein Adler ab, um den richtigen Augenblick abzupassen, sich auf sein Opfer zu stürzen. Dann schlägt es gnadenlos und brutal zu. Genau wie die Gitarren, die ihre elektrisch aufgeladenen Töne kreisen lassen, bevor sie ohne Vorwarnung und Gnade die Hölle zum Brodeln bringen.

Eine unnachgiebig pochende Bass-Trommel und das giftig zischende Hi-Hat treiben "Narrator" nach vorne. Wenn dann noch die anarchische Funk-Gitarre dazu kommt, siedet der Track und steht kurz vorm Explodieren. Judge jault auf wie ein waidwunder Coyote und verdreht sich seine Stimmbänder beim Versuch, wütend und aufklärend zugleich zu sein. Wäre da nicht die laszive Frauenstimme von Martha Skye Murphy, die den tobenden Sänger zur Räson bringt, würde der Funk-Punk womöglich im atonalen Chaos enden. In ihrer Ekstase baut die Band noch zwei weitere brachiale Höhepunkte in den ausufernden Track ein, der gegen Ende durch spitze Lustschreie eine orgiastische Wendung nimmt.
Mit aufgekratztem, sich spiralförmig um die eigene Achse drehenden, alternativem Funk-Rock geht es bei "Boy Racers" weiter. Das Stück scheint mit jeder Note die Atmosphäre eines (illegalen) Auto-Rennens aufzunehmen. Schweiß, Adrenalin und Geschwindigkeitsrausch liegen in der Luft. Dann fällt die Spannung plötzlich ab und der Track gleitet in einem brummenden und dröhnenden Space-Jazz-Outro ewig lange aus. Der monotone Kraut-Rock von Neu!, der überkandidelte New Wave der B52`s und die "Crazy Rhythms" der Feelies finden sich in Auszügen bei "Paddling" wieder. Das klingt verrückt und überdreht und bläst das Hirn weg.
Für "Documentary Filmmaker" wird mit Dynamiksprüngen, Tempowechseln und Minimal-Art-Wiederholungen experimentiert. Eine Bläser-Sektion hilft tüchtig mit, dem kontrollierten Wahnsinn (Free)-Jazz-Konturen zu verleihen. "2010" groovt zunächst herzhaft im Westcoast-Hippie-Rock Stil, hat aber das Böse im Handgepäck, dass sich dann fies, übermächtig, brutal, hinterhältig und zerstörerisch zwischen die psychedelisch fließenden Noten mischt. Ein Gemetzel, das vermeidbar gewesen wäre und zweimal abgewehrt wird. 
Die Musik hat eine ähnlich zerstörerische, rohe Energie, wie sie auch bei "Powermad" von Slaughterhouse in einer Szene des Road-Movies "Wild At Heart" von David Lynch abgesondert wurde.
"The Flyover" ist ein experimentelles Jazz-Zwischenspiel, bei dem die Bläser die mehrdimensionalen Töne vorgeben. Bei "Peel St." scheinen dann verrückte Sound-Spielereien die Oberhand anzustreben. Aber der kraftvolle, wuchtige Rhythmus leitet den Song dann doch noch in angemessen stabile Bahnen um. Die unerwartet auftretenden Brüche weisen auch beim folgenden, ebenso schwierigen und sperrigen "Global Groove" darauf hin, dass die Musiker ganz genau bei Captain Beefheart zugehört haben. 
Mit "Pamphlets" bekommt das Album dann nochmal griffige Konturen. Der Song ist bemüht, den treibenden Schwung gegenüber dem groben Experiment zu bevorzugen. Das Stück ist natürlich auch keine leichte Kost, weil unter anderem Ollie Judge nochmal alles gibt, um seine ungezügelten Emotionen bersten zu lassen. Aber zumindest behalten die Instrumentalisten die Übersicht und chauffieren den Track wild torkelnd, abgehetzt und schweißgebadet, aber immerhin einigermaßen heile über die Zielgrade.

Die jungen Wilden. Es gibt sie immer wieder und immer lösen sie bei vielen Hörern zunächst Entsetzen aus. Andererseits lassen sie Kritiker schwärmen oder vom nächsten großen Ding träumen. Und manchmal sorgen sie sogar für eine musikalische Revolution. Squid verzichten weitestgehend darauf, ihren jugendlichen Übermut in songdienliche Bahnen fließen zu lassen, so dass sie schon alleine durch rastlose Energie und den Mut zum unkonventionellen Umgang mit Strukturen und Abläufen einen nachhaltigen Widerhall im Gehörgang verursachen. Und der ist gewaltig, so dass die Platte gerne nochmal aufgelegt wird, um sich den Kopf freiblasen zu lassen.

The Making Of "Bright Green Field":

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