Billie Marten - Flora Fauna

 
Wenn man draußen unterwegs ist, kann man schon mal richtig dreckig werden. So wie es Billie Marten für das Foto auf dem Cover ihres Albums "Flora Fauna" dokumentiert hat. Zurück zu den Wurzeln, zum Ursprung, zum (Er)Leben. Billie Marten ist naturverbunden und liebt Alpacas. Sie wuchs in den Hügeln von Ripon bei North Yorkshire in England auf und jetzt stellt sie ihren Bezug zur Umwelt dar. "Wenn das Album ein Gemälde wäre, würde es wie Flora und Fauna aussehen - es umfasst jeden Organismus, jeden Winkel der Erde und ein Gefühl der totalen Erfüllung", erklärt die Musikerin den Titel ihres dritten Werkes.

Billie wurde am 27. Mai 1999 als Isabella Tweddle geboren und war quasi ein "Kinderstar", denn bereits mit 9 hatte sie einen YouTube-Kanal, auf dem sie Cover-Versionen von Pop-Songs veröffentlichte. Mit 12 Jahren nahm sie an den Ont` Sofa-Sessions teil und sorgte mit ihrer Version von Lucy Rose`s "Middle Of The Bed" für Aufmerksamkeit.
Das gab einen gewaltigen Schub in Richtung einer professionellen Karriere und 2014 kam dann auch die erste Single ("Ribbon") auf den Markt. Ein Jahr später folgte die EP "As Long As". Von der BBC wurde ihr daraufhin ein kommerzieller Durchbruch vorhergesagt. 2016 erschien mit "Writing Of Blues And Yellows" der erste Longplayer, der im Vereinigten Königreich auf Platz 53 der Album-Charts landete. Die Schattenseiten des Erfolges trafen die junge Frau dann völlig unvorbereitet mit voller Wucht. Sie bekam Ängste und Depressionen und brauchte eine Auszeit. Trotzdem hielt sie an der Musik fest und veröffentlichte 2019 das Album "Feeding Seahorses By Hand". Aber das Musik-Business ist schnelllebig und unbarmherzig. Die Platte bekam jedenfalls nicht mehr die Resonanz des Debüts.

Aber nun ist sie präsenter denn je. An "Flora Fauna" kommt man nämlich nicht vorbei, sofern Interesse an intelligenten, Folk-basierten Sounds besteht. Der Einfluss einiger Vorbilder ist bei der Musik von Isabella als Energie- und Vorlagenspender nachvollziehbar und wertvoll. Sie  heftet sich an deren Spuren und besonders die Innovationen von John Martyn, Laura Marlings lasziver Coolness und die Wandlungsfähigkeit von David Bowie sind omnipräsent. Miss Marten scheint diese Inspirationen intravenös aufgenommen und sie in ihre DNA überführt zu haben, denn die neuen Stücke sprühen vor Kreativität und wurden raffiniert arrangiert und liebevoll produziert. Es wird deutlich, welche positiven Kräfte musikalische Schwingungen bei Isabella Tweddle freisetzen konnten. Es ist nahezu unglaublich, wie stark, selbstbewusst und qualitativ hochwertig die Lieder geworden sind. Keine Spur von Selbstzweifeln, Unsicherheit oder Mittelmäßigkeit ist zu spüren.

Beim Eröffnungs-Stück "Garden Of Eden" geht es darum, dass wir wie alle Lebewesen Raum zum Gedeihen benötigen und dabei gehegt und gepflegt werden müssen. Der gegenseitige Wettbewerb, in dem wir häufig miteinander stehen, behindert uns jedoch in unserer natürlichen Entwicklung, meint Billie Marten. Der Song drängelt sich im rumpelnd-groovenden Folk-Jazz-Kontext in den Vordergrund und nutzt die Erholungsphasen, um sich geläutert, weise und melodisch verzückt in Szene zu setzen.
Man stelle sich vor, die Existenz der Erde stehe am unumkehrbaren Abgrund und es gibt die Chance, der Apokalypse zusammen mit nur einer anderen Person zu entkommen. Wen würde man warum auswählen? Dieser Frage geht "Creature Of Mine" nach. Billie singt verführerisch und sanft mit besorgtem Unterton. Zu dem ernsten Thema wird eine Atmosphäre voller Harmonie, Ausgeglichenheit und natürlicher Leichtigkeit erzeugt, die Anregungen aus Westcoast-Folk und vollmundig-rundem Jazz zu einer sinnlichen Erfahrung zusammenführen.
Mit "Human Replacement" macht die Musikerin darauf aufmerksam, dass es für Frauen oft nicht möglich ist, in der Nacht alleine irgendwo hingehen zu können, ohne Angst haben zu müssen. Passend zum Thema erzeugt der Bass ein dumpfes Grummeln, dass auch als Bedrohung gedeutet werden kann. Und die Stimme klingt eingeschüchtert, versucht aber, Haltung zu bewahren und sich Mut zuzusprechen. Der stramme Rhythmus gibt Rückendeckung und trägt das Alternative-Rock-Stück sicher über die Zeit.
Für "Liquid Love" lässt die Sängerin einige letzte Silben der Worte lange fließen und erzeugt so ein Gefühl von Wohlbefinden, vielleicht sogar Lust. Zumindest ist der Track fried- und genussvoll angelegt und bedient sich gemächlicher TripHop-Rhythmen zur Steigerung der Intensität.
Die Poesie von Billie Marten hält sich oft mehrere Deutungsebenen offen. In "Heaven" geht es sowohl darum, zu ergründen, welche Eigenschaften für eine erfüllende Liebe wichtig sind, wie auch darum, himmlische Unterstützung und eine Möglichkeit zu finden, Körper und Geist ins Gleichgewicht zu bringen. Aber der Text lässt durchaus auch andere Sichtweisen zu. Der inhaltliche Themenkomplex wird in einen Ablauf von vertraut wirkenden Pop-Mustern und psychedelisch wirkenden Tönen eingebunden, wobei der Wohlklang eindeutig gegen die Exzentrik gewinnt. 
In Interviews sprach Billie über ihre problematischen Zeiten: "Ich hing mit den falschen Leuten rum, hatte flüchtige und nichtssagende Beziehungen, trank viel und aß nicht." In "Ruin" verarbeitet sie diesen Krieg, den sie gegen den eigenen Körper führte. Ein trockener Rockabilly-Rhythmus gibt das schlaksige Tempo der zarten Ballade vor. Er wird dabei von klaren Surf-Gitarren und dröhnenden Hintergrund-Riffs flankiert. Die ganze Garde musikalischer Gegensätze zwischen Dur und Moll symbolisiert den Kampf, den Billie Marten auf dem Weg zu "Flora Fauna" durchstehen musste. 
Der Schlüsselsatz bei "Pigeon" lautet: "Ich brauche dich mehr, als du mich brauchst". Es geht wohl um fehlendes Selbstvertrauen in der Beziehung und das sich daraus entwickelnde Gefühl, in dieser unbefriedigenden Situation festzusitzen. "Da kann ich nicht mithalten" heißt es an anderer Stelle, was diesen Eindruck bestätigt. Das Lied läuft entsprechend schleppend und bedrückend ab und vermittelt eine schutzbedürftige Unschuld. Die Musik dazu klingt gehaltvoll, mehrschichtig und bodenständig.
Die klaren Linien von "Kill The Clown" lassen den Track sanft gleiten und die Streicher unterstützen diese Schwerelosigkeit dezent. Ansonsten versorgen akzentuierte Percussion-Fills und ein ruheloser Bass die bewegliche Basis dieses hinreißenden Folk-Pop-Songs mit Energie.
Unnachgiebig schwellende Töne begleiten "Walnut" in eine dunkel gefärbte Sound-Landschaft, die wenig Licht zulässt. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt und so strebt die Komposition unablässig danach, nicht die Zuversicht zu verlieren. Der Ausgang dieser Bemühung wird aber offen gelassen, denn der Text endet mit der widersprüchlichen Aussage: "Ich werde Dich nie verlassen. Du musst mich verlassen." 
"Aquarium" reflektiert nochmal eine Krisensituation, in der sich Billie Marten befand. Sie rief ihren Vater an, den sie für weise hält, weil er immer direkt auf den Punkt kommt, wenn sie ihn um Hilfe bittet. Als sie ihm berichtete, wie niedergeschlagen sie sich fühle, sagte er nur: "Der schwarze Hund wird verschwinden." Danach schrieb sie sofort diesen Song, der einen geläuterten Eindruck hinterlässt und nicht zufällig an Nick Drake erinnert. Schließlich litt er auch unter psychischen Problemen und vermochte es wie kaum ein anderer, tiefgründige Gefühle so in Noten und Gesang zu gießen, dass sie unmissverständlich, plastisch und unheimlich ergreifend dargestellt wurden.

Billie Marten begibt sich mit "Flora Fauna" in eine Liga mit Laura Marling, Maria Taylor, Joan ShelleyJudith Owen oder Eilen Jewell. Diese starken Frauen scheuen sich nicht, ihre Emotionen offen zu legen und sie unabhängig, originell und sensibel mit sinnlich-ergreifender Musik zu garnieren. Die besondere Stärke von Billie Marten liegt in ihrer anpassungsfähigen Stimme, die für alle Themen die passende Tonlage findet. Die flexible Instrumentierung unterstützt außerdem vortrefflich die klug inszenierten, substantiell hochwertigen Songs durch ihren lebhaften, transparenten und einfallsreichen Einsatz. Schönheit, Charme, Intimität und Originalität verbinden sich bei "Flora Fauna" zu einer qualitativ hochwertigen Einheit. Willkommen in der Champions League!

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