Lambchop - Showtunes

2019: "This (Is What I Wanted To Tell You"), 2020: "TRIP", 2021: "Showtunes". Von Album zu Album entfernten sich Lambchop zunehmend von den elektronischen Spielereien und dem verfremdetem Gesang, die "FLOTUS" (2016) so befremdlich erscheinen ließ. Dafür ließen die Künstler wieder mehr Raum für verdeckten Soul, klare Americana-Strukturen und anmutige Tondichtungen zu. Lambchop ist zwar ein offenes Projekt von Freunden, aber der Denker und Lenker ist eindeutig Kurt Wagner. Der charismatische Musiker bestimmt, welcher Weg eingeschlagen und welches Konzept verfolgt wird. Und auch, welche Musiker an den Produktionen beteiligt werden.

Für "Showtunes" holte er sich Ryan Olson von den Bands Gayngs und Poliça ins Boot, der für die Produktion, die Arrangements und Sound-Manipulationen zuständig war. Dann noch seinen alten Freund James McNew am Kontra-Bass, dessen "Weather Blues" für das Cover-Versionen-Werk "TRIP" ausgesucht wurde und dessen Stammband Yo La Tengo heißt. CJ Camerieri kümmerte sich um alle Blasinstrumente und 
Andrew Broder (von Fog) saß am Flügel und bediente die Turntables. Co-Produzent Jeremy Ferguson und Schlagzeuger Eric Slick sorgen für Percussion-Fills und der Kölner Hip Hop Produzent Twit One (der 2016 den Song "FLOTUS" remixte) steuerte Beats und Effekte dazu. Wagner singt, spielt MIDI-Piano sowie Gitarre und gibt seinen Kompositionen den letzten Schliff.

Die "Showtunes" hinterlassen den Eindruck einer abstrakten Rekonstruktion der opulenten Kompositionen von George & Ira Gershwin, Cole Porter und Richard Rodgers & Oscar Hammerstein, die dem sogenannten Great American Songbook zugeordnet werden. Von Lampchop werden sie wie durch einen Zerrspiegel in die Gegenwart gelenkt und umgedeutet. Die aktuellen Lambchop-Schöpfungen würden also besser im abstrakten Musik-Theater funktionieren, als im Musical-Kontext, dazu sind sie einfach zu skurril und bizarr. Kurt Wagner entwickelt außerdem einen individuellen Ausdruck, der Traurigkeit zulässt und sie auf eine hoffnungsvolle Ebene hievt. Zusammen mit künstlerischen Elementen wird so eine neue Hörerfahrung hervorgerufen. Das ist vergleichbar mit den Arbeiten der Tindersticks oder von The Blue Nile. Diese konstruktive Melancholie in Verbindung mit gehaltvollen, fordernden Tonfolgen führt zu einer Besinnung auf das Wesentliche und somit zu einem Blickwinkel, von dem aus sich neue Perspektiven eröffnen.

Der Opener "A Chef's Kiss" wirkt in diesem Zusammenhang anfangs durch eine andächtige, moll-lastige Kirchenorgel noch bedrückend. Aber im weiteren Verlauf bekommt der Track bei aller Zurückhaltung und Schwere in der Stimme von Kurt Wagner trotzdem eine beinahe schwerelose Komponente verliehen, als wäre inzwischen jeglicher irdischer Ballast abgeworfen worden. 
"Drop C" ist das Ergebnis einer Klang-Collage, die aus einigen, über eine lange Zeit gesammelten Einfällen zu bestehen scheint. Monotone Akkord-Wiederholungen, Spoken-Word-Einblendungen, elektronische Percussion und Wall Of Sound-Bläser sind dabei nur ein paar der Zutaten, mit dem dieser anspruchsvolle, barocke, um Wohlklang bemühte Art-Pop garniert wurde. Gesanglich hat Kurt Wagner in Bill Callahan einen Gleichgesinnten, denn er setzt seine Stimme genauso betont und bedächtig ein und verfügt über die gleichen stimmlichen Ausdrucksmöglichkeiten. 

Der witzige Titel "Papa Was A Rolling Stone Journalist" hat musikalisch nichts mit der Funk-Nummer "Papa Was A Rolling Stone" der Temptations zu tun. Mit diesem Stück zeigen Lambchop, dass es zwischendurch auch mal gut tut, die Instrumente eine Geschichte erzählen zu lassen. Sprache stört nur, wenn Schwingungen erzeugt werden können, die für sich selbst sprechen. Dramatik, Romantik, lasziver Bar-Jazz und mächtige Fanfaren treffen unkonventionell zusammen und gestalten einen Soundtrack für einen Film, den es gar nicht gibt.
Es ist mutig, seinen Fans solch ein abstraktes, um Harmonie bemühtes, aber in surrealen Sequenzen gefangenes Stück wie "Fuku" zuzumuten. Darin hat Kurt Wagner inzwischen Routine. Auf dem Vorgänger "TRIP" war die Deutung von Wilcos "Reservations" auch schon solch eine anspruchsvolle Herausforderung. Bei diesen Stücken geht die konsequente Abkehr von traditionellen Mustern in Richtung der Spätwerke von Scott Walker oder erinnert an "Arrythmia" von Stuart A. Staples. Das sind alles Gleichgesinnte, wenn es darum geht, Hörgewohnheiten aufzubrechen.
Bei "Unknown Man" lässt Kurt Wagner quasi die Stille atmen, bevor sich das Geschehen verdichtet und sich der Track zu einem fiktiven, abstrakten The Band-Song entwickelt. Das ist genau der Moment, wo der Americana-Sound und das Great American Songbook zu einem Konstrukt verschmelzen und es entsteht Musik, die auch für das epische Theater von Bertold Brecht geeignet gewesen wäre

Für "Blue Leo" verfremdet Wagner seine beruhigende, weise Stimme, so dass sie einer kaputten Computer-Ansage gleicht. Ein klopfender, elektronisch erzeugter Takt schlägt sich auch noch auf die Seite der Maschinenklänge. Aber ein sonorer Bass, ein für edle Schönheit sorgendes Piano und eine mild angeblasene, gestopfte Trompete vermitteln als Gegengewicht Geborgenheit und Sanftmut. 
Siehe da: Die Gitarre wurde doch nicht gänzlich eingemottet. Beim gesanglosen, ruhigen, von verhaltenen Bläser- und Keyboard-Teppichen getragenen "Impossible Meatballs" steuert sie silbrige Töne bei, die Bilder von weiten Landschaften hervorrufen, die von Sehnsucht begleitet sind. Wer dabei an "Paris, Texas" von Ry Cooder denkt, liegt nicht falsch.

Wie aus einer fremden Welt oder einem nicht beachteten Radio dringt bei "The Last Benedict" gelegentlich weiblicher 
Opern-Arien-Gesang ans Ohr. Diese Begegnung ist ungewöhnlich und trägt seltsame Züge, als ob sich die Töne unabsichtlich eingeschlichen hätten. Oberflächlich betrachtet stören sie den einträchtigen Ablauf dieser um Harmonie bemühten Ballade, aber eigentlich bereichern sie den Song, weil sie grundsätzlich unvereinbare Bestandteile zusammen bringen möchten.

Die neuen Lieder entstanden an einem Midi-Piano, nicht wie sonst an der Gitarre. Die Beschäftigung mit dem Tasten-Instrument schuf neue Möglichkeiten und machte andere Ausdrucksformen erst möglich. Der Sound kann manchmal sowohl als entschleunigend wie auch wohlklingend angesehen werden, so dass er nur noch von der Stille an Intensität übertroffen wird. Aber einen abstrakten Kunstverstand sollte man auch haben, um alle Tracks einordnen und würdigen zu können. Die Musik, die nur knapp eine halbe Stunde dauert, ist nämlich manchmal auch vertrackt, komplex arrangiert und nicht einfach zu hören. Es gibt im Sinne eines traditionellen Pop-Songs nur wenige markante Melodielinien und keine mitreißenden Rhythmen. Dafür Atmosphäre satt, erhabene Stimmungen, interessante Sounds und eine Stimme mit hohem Wiedererkennungswert und besonders eindrucksvollem Timbre. 

Die Kompositionen sind Showtunes für Leute, die die üblichen Showtunes nicht mögen, sagt Kurt Wagner. Mit etwas Fantasie kann man sich diesen Song-Zyklus tatsächlich als Grundlage einer Bühnenshow mit wild-romantischem, teilweise verwirrendem Ablauf vorstellen. Lambchop haben jedenfalls mit "Showtunes" ein Gesamtkunstwerk vorgelegt, in das Zeit investiert werden muss, um es vollständig zu ergründen.

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