Liv Solveig - Slow Travels

 
Die Eltern von Liv Solveig Wagner kommen aus Norwegen und Deutschland. Sie wohnte als Kind und Jugendliche unter anderem in Tübingen und Stuttgart, hat in Karlsruhe Geige und in New York Jazz-Gesang studiert und lebt jetzt in Berlin. Auf ihrem Debüt "Slow Travels" verarbeitet die Musikerin unter anderem beschwingende Einflüsse aus Pop, Singer-Songwriter-Ästhetik, Klassik-Motive und Jazz-Themen. Die Jazz-Gesang-Ausbildung kommt in seiner ursprünglichen Form allerdings nicht so sehr zur Geltung. Der Titel des Werkes ist sinnbildlich für die lange Reise anzusehen, die bei Liv Solveig zu einer musikalischen Definition geführt hat, die sie selber als "Sinfonic Scandinavian Indie" bezeichnet. 

Alle Songs des Albums wurden übrigens schon 2017 fertig gestellt und damals mit einem Folk-Background versehen. So richtig zufrieden war Liv Solveig dann aber doch nicht mit den Aufnahmen. Deshalb überarbeitete sie die Songs und hat dabei noch entscheidende Änderungen vorgenommen. Die Corona-Einschränkungen gaben ihr die Muße, mit Abstand Zusammenhänge zu hinterfragen und aus den gewonnenen Erkenntnissen neue Schlüsse zu ziehen. So kam es, dass zum Beispiel akustische mehrmals durch elektrische Gitarren ersetzt und Songs gekürzt wurden. Letztlich kamen alle Details auf den Prüfstand und wurden abermals auf ihre Tauglichkeit hin untersucht.

Dennoch sind grundsätzliche Prägungen geblieben: Die endlosen Landschaften Norwegens mit ihren Wäldern, Seen und Fjorden finden in den Liedern weiterhin ihren kühlen, bedächtigen, weitläufigen Widerhall. Entschleunigung und Achtsamkeit, haben bei der Entwicklung der Kompositionen eine große Rolle gespielt. Genauso wie Einflüsse, die aus der Beschäftigung mit klassischer Musik heraus entstanden sind. Da ihre Mutter Kirchenorganistin war, liefen Werke von Vivaldi und Bach im elterlichen Haus, waren aber auch bei der Geigen-Ausbildung wichtig. Dabei lernte sie nebenbei, welche wichtige Funktion Disziplin bei der Erlernung eines Instrumentes bedeutet. Beim Jazz-Gesang-Studium kam dann die Improvisation dazu. Neben einer guten Technik war jetzt auch Fantasie gefragt. So kamen Pflicht und Kür zusammen. Eine Paarung, die sich wie Yin und Yang ergänzen und sich bei der Erforschung von Grenzen und Unterschieden als nützlich erweisen. Dieses Rüstzeug lässt die Musik sowohl ernst wie auch verspielt erscheinen.

Ein weiteres Bestreben von Liv Solveig ist es, Gegensätze harmonisch vereinen zu wollen: Lead- und Hintergrund-Stimmen sorgen bei "Cold Heart" für Anmut und Andacht, bevor Schlagzeug, E-Gitarre und Piano weltlichen Schwung und Ausgelassenheit verbreiten. Die Geige verbindet dann die konträren Emotionen zu einer Einheit und sorgt somit für den Klebstoff in dem sich dynamisch steigernden Song, während die Trommeln weiter unnachgiebig voran preschen. 
Für "Sleepless With Endless Thoughts" wird beschaulicher Folk in kräftigen Folk-Rock transformiert. Aus Lagerfeuer-Romantik wird somit ein weitläufiges, cooles Spaghetti-Western-Feeling abgeleitet. Schwüle, schleppend-hypnotische Voodoo-Percussion-Einschübe verleihen dem Stück zeitweise eine mysteriöse, fremdartige Stimmung.

Die Piano-Ballade "Why Were You Smiling" ist zwischen nachdenklich und aufmunternd angesiedelt. Die Komposition verbindet also traurige Tonlagen mit positiv-optimistischer Pop-Leichtigkeit und generiert daraus demütige Anmut und eigentümliche Reize. 
"Words" taucht in dunkle Gefilde ab, die trübe und geheimnisvoll erscheinen. Die E-Gitarre flirrt eruptiv und dröhnt bedrohend, während die Rhythmus-Instrumente stetig die Atmosphäre aufwühlen. Im Hintergrund lodert flankierend eine beängstigende Untermalung auf. Liv Solveigs Lead-Gesang ist aber bemüht, sich nicht über Gebühr in eine Verunsicherung treiben zu lassen.

"Start Again" ist ein zuversichtlich klingender Titel, die Musik dazu zeigt sich jedoch bedrückt, introvertiert und feinfühlig. Die teils gegen den Strich gebürsteten Streicher klingen wie zu Tönen gewordene Eiszapfen, überhaupt ist die Stimmung eher frostig als warm. Aber der Gesang transportiert zumindest eine tröstende, hoffnungsvolle Klang-Farbe und erscheint dadurch wie ein Licht am Ende des Tunnels. Das Licht wird mit "How Far" erreicht. Es geht voran, Tauwetter ist angesagt, die Natur erwacht, Aufbruchstimmung macht sich breit. Alle diese Assoziationen verbreitet dieser Pop-Song mit dem einprägsamen Refrain "How Far Is The Ocean? How Far Is The Moon? Can I Reserve A Place In Your Heart?"
"Heartbeat Of Shibuya" verarbeitet Eindrücke, die Shibuya, ein Stadtbezirk von Tokyo, hinterlassen hat. In Shibuya liegt die berühmte Fußgänger-Straßenkreuzung, die oft in Reiseberichten zu sehen ist. Mit über 36 Meter diagonaler Länge ist sie die größte ihrer Art, bei der 5 Straßen aufeinander treffen. Je Grün-Phase wird die Kreuzung von durchschnittlich 3.000 Personen überquert, zu Spitzenzeiten können es sogar 15.000 Menschen sein. Der hektische Großstadt-Dschungel kommt hier Tag und Nacht nicht zur Ruhe. Diese Intensität wird in dem auf- und abschwellenden Lied vertont, welches sowohl Begeisterung für die fremde Kultur, wie auch Verwunderung über die gehetzten Abläufe ausdrückt.
Ist "You" ein Liebeslied? Wenn ja, ein sehr persönlich empfundenes, inniges Stück voller überfließender, in Moll gegossener Emotionen. Ein Wehklagen, das dankbare Erfüllung oder auch verzweifelte Sehnsucht ausdrückt. Je nach Perspektive. Das Lied wird mit mitfühlenden Bläsern und klagenden Geigen gefüllt, so dass es zusammen mit dem von wohligem Schmerz erfüllten Gesang vor Dramatik überzulaufen droht. So intensiv, so berührend, so schön.

"One Morning In Harlem" handelt davon, wie es ist, wenn man einschläft, während die Stadt erwacht. Die Nacht wurde zum Tag gemacht und nun fordert der strapazierte Körper seinen Tribut. Jetzt ist eine Art Wiegenlied hilfreich, um angenehm in die Zwischenwelt zu gelangen. Und so etwas ähnliches wird hier praktiziert, aber mit Niveau und nur für Erwachsene.

Musik braucht Weite, sagt Liv Solveig und diese steckt ganz besonders im abschließenden "Slowly, Travels", das nochmal ein Füllhorn an Stilen, Stimmungen, Solo-Aktivitäten und laut/leise-Abstufungen in viereinhalb Minuten unterbringt. Der abgeklärte Gesang verströmt zudem die Altersweisheit einer Marianne Faithfull. Es wird eine sakrale, sanfte Atmosphäre erzeugt. Die Solo-Geige erzählt dazu eine phantasievolle Geschichte, wie man sie zuletzt so bewegend bei "White Bird" von It`s A Beautiful Day im Jahr 1968 gehört hat (aber hier gibt es sie in Kurzfassung). Das lockt auch die Rhythmus-Abteilung, die Blasinstrumente und den Synthesizer aus der Reserve, die zum Schluss noch mal aufdrehen wollen, aber ihre Bemühungen verhallen unvollendet. 

Liv Solveig ist auf der Suche nach einem individuellen Weg. Vielleicht hat sie ihn ja auch schon gefunden. Die Zusammenarbeit mit And The Golden Choir, Get Well Soon, Alin Coen und Balbina erweiterte ihren Horizont und versetzte sie in die Lage, die Arbeiten der Kolleginnen und Kollegen mit ihren Vorstellungen abzugleichen. Deshalb brauchte "Slow Travels" wohl auch eine lange Reifezeit, damit so viele musikalische Anregungen wie möglich einfließen und qualitativ überprüft und bearbeitet werden konnten.

Es empfiehlt sich, "Slow Travels" zuerst über Kopfhörer zu hören und erst dann über die Anlage laufen zu lassen. Dann prägen sich die wichtigen Details besser ein, die eventuell sonst einem verwehten Klangbild zum Opfer fallen würden. Denn es sind die ineinander laufenden Instrumente und die bedeutenden Einzelheiten, sowie die kurz eingestreuten Zwischen-Töne oder die im Hintergrund ablaufenden leisen Sequenzen, welche in den Arrangements raffinierte Überraschungen erzeugen. Mit diesen Zutaten werden aus sehr guten die ganz besonderen Kompositionen. Was Liv Solveig auszeichnet, ist ihr behutsamer, aber wirkungsvoller Umgang mit Einflüssen und Vorlieben. Dadurch können Abgrenzungen zwischen Unterhaltsmusik und ernster Musik ad absurdum geführt werden, denn durch Stil-Fusionen erfolgt eine Konservierung von schönen und anregenden Klängen. Aus konträren Stimmungslagen entstehen feinfühlige, sich innerlich reibende Ton-Muster. Dafür braucht es aber keine Zuordnungs-Schublade. Gute Musik spricht nämlich für sich selbst.

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