FATHER JOHN MISTY - Pure Comedy (2017)

JOSH TILMAN hat mit FATHER JOHN MISTY ein Alter Ego erschaffen, das im Bereich von anspruchsvollem Singer-Songwriter-Schaffen Maßstäbe setzt. PURE COMEDY ist ein Monster von Album, das tagesaktuell, aber eigentlich auch zeitlos den Zustand der Welt beschreibt und mit komplexen Songs ein Konzeptalbum von bleibendem Wert abliefert.

Das „schwierige“ dritte Album: Ist „Pure Comedy“ ein würdiger Nachfolger von „I Love You, Honeybear“ geworden?

Die ganze Welt scheint aus den Fugen zu geraten: Religiöse Fanatiker und wild gewordene nationalistische Politiker spielen verrückt oder sind es wirklich. Die Umwelt wird auf Teufel komm raus zerstört, Naturkatastrophen treten gefühlt immer häufiger auf und der Hunger in Afrika kehrt zurück und es scheint kaum jemanden zu interessieren. Dieser Wahnsinn ist nur noch mit Galgenhumor zu ertragen.
Der Folk-Sänger Josh Tillman, der sich den missionarischen Künstlernamen Father John Misty gegeben hat, plädiert dafür, sich wieder auf Grundwerte zu besinnen und demütig zu realisieren, welche Möglichkeiten jeder einzelne hat, Verantwortung für Mitmenschen zu übernehmen. Es geht um die Allianz der Vernünftigen und die Besinnung auf das, was Humanität ausmacht. Schließlich sind Menschen im Gegensatz zu vielen Tieren nach ihrer Geburt relativ lange hilflos. Sie sind also auf ihre Artgenossen angewiesen, um überhaupt überleben zu können. Damit das funktioniert, muss Liebe und Empathie stark ausgeprägt sein.
Father John Misty: Pure Comedy (Kritik & Stream) - Musikexpress
Father John Misty erklärt mit „Pure Comedy“ den Zustand der Welt aus seiner Wahrnehmung heraus. Der Vorgänger „I Love You Honeybear“ von 2015 war ein opulentes Art- und Harmony-Pop-Werk mit Hang zur überschwänglichen Revue. Die Platte hat dadurch zumindest Zweckoptimismus verbreitet und die Erwartung auf das Licht am Ende des Tunnels bewahrt. Unter ähnlichen Bedingungen ist die Ausstrahlung der neuen Lieder auf „Pure Comedy“ pessimistischer ausgefallen. Im weitesten Sinne handelt es sich um gesellschafts- und sozialpolitische Protest-Songs. Josh trägt sie mit einer Stimme vor, die in ihrer Entschlossenheit die Kraft des Folk-Urgesteins Loudon Wainwright III transportiert, die dramatischen Züge des Gesangs von Gary Brooker (Procol Harum, „A Salty Dog“) enthält und durch ihre Abgeklärtheit sogar auf Elton John verweist. Mr. Tillman vollführt immer noch Ausflüge ins Falsett („Ballad Of The Dying Man“), aber gesanglich ist er nicht mehr unbedingt als Crooner unterwegs, kann jedoch seine Prediger-Attitüde nicht abstreifen.
Ein kritisch-dramatisches Bild der Welt wird auch im 25-minütigen Making-Of-Video zu „Pure Comedy“ gezeichnet. Der Schwarz-Weiß-Film zeigt Josh im Studio: Er grübelt, probiert aus, zeichnet, notiert, skizziert und nimmt Gesangsspuren auf. Zusätzlich gibt es verstörende Comic-Bilder voll von sexuellen Obsessionen, Gewalt, Todessymbolik, religiösem Extremismus und radikalen politischen Eindrücken. Im Musik-Video zum Song „Pure Comedy“ taucht auch Donald Trump auf. Großflächig wird sein Gesicht zwecks Darstellung von Gestik und Mimik gezeigt. Ein irrer Polit-Clown wird Präsident, dabei kann es sich doch nur um „Pure Comedy“ handeln. Die Realität befindet sich im Zerrspiegel: Fakten spielen keine Rolle mehr und die sozialen Netzwerke werden zunehmend für unsoziale Zwecke missbraucht.
 
Aus dieser Anschauung heraus konstruierte Josh Tillman seine Kompositionen. Teilweise mussten sie drei Jahre lang reifen („Leaving L.A.“) und bekamen erst jetzt durch den enthusiastischen Co-Produzenten Jonathan Wilson und den kultivierten Streicher-, Bläser- und Chor-Arrangeur Gavin Bryars den letzten Schliff. Der Song „Pure Comedy“ entwickelt sich von einer puren Piano-Ballade langsam zu einem rauschhaft schwingenden und brodelnden Gebilde in der Art von „River Song“ aus „Pacific Ocean Blue“ von Dennis Wilson (Beach Boys). „Total Entertainment Forever“ verbindet Folk-Rock mit Elementen des Soul, Funk und Jazz, die sich durch kräftig-elegante Bläser und einen karibisch anmutenden Rhythmus bemerkbar machen.
 
Die Harmonien von Burt Bacharach und die Experimentierfreude der „Magical Mystery Tour“- Beatles haben ihre Spuren bei „Things That Would Have Been Helpful To Know Before The Revolution“ hinterlassen. Für „Ballad Of The Dying Man“ ist Father John eine liebliche, wunderschöne Melodie eingefallen. Der Song verbreitet durch den schwelgenden Hintergrundgesang eine sakrale Aura, wird aber durch die lässige Folk-Rock-Besetzung geerdet. „Birdie“ wird über rückwärts laufende Bänder, fremdartige Percussion-Geräusche und einem Piano, das sparsame Akkorde absondert, seltsam aufgebaut. Ausgleichender Gesang, wallende Hintergrund-Töne und akustische Gitarrenläufe versuchen das Klangbild zu ebnen. Aber Unheil verheißende Streicher und Gesänge stören die Herstellung von Ausgewogenheit erneut. Letztlich siegt aber die Eintracht über die Besorgnis.
 
Das Kernstück des Werks ist das dreizehn minütige „Leaving L.A.“, eine Abrechnung mit dem Lebensstil in der Stadt der Engel. Betont desillusioniert und öde rezitiert Joshua seine zehn Strophen über ein trostlos anmutendes Streichquartett, welches karg von einer akustischen Gitarre begleitet wird. Taumelnde, mit glockenhellen Vibraphon-Tönen, würdigem E-Piano und wirbelnden Streichern versehene Begleitmuster geben „A Bigger Paper Bag“ einen psychedelischen Anstrich. Andächtig wird es mit „When The God Of Love Returns There’ll Be Hell To Pay“. Der Chor gibt sich ehrfürchtig und Mr. Misty singt konzentriert zum noblen Grand-Piano. Eine gleißende Steel-Gitarre kündigt bei „Smoochie“ sensiblen Country-Rock an und mit „Two Wildly Different Perspectives“ wird dann ein feinfühliger Folk-Jazz mit delikat ausgeklügelter Melodieführung verwirklicht.
 
„The Memo“ stellt einer nüchternen Folk-Erzählung tiefe Ergriffenheit gegenüber. Der Country-Folk von Neil Youngs „Harvest“ (1972), Tim Buckleys Drogen-Folk von „Goodbye And Hello“ (1967) sowie Radiohead-taugliche Space-Sounds finden beim weit ausholenden „So I’m Growing Old On Magic Mountain“ zueinander. Mit „In Twenty Years Or So“ wird dieser ätherische Folk-Gedanke weitergetragen. „Pure Comedy“ macht es dem Hörer nicht leicht, sich auf die verwinkelten, komplex aufgebauten und teils ausgedehnten Songs einzulassen. Und das ist gut so. Die Musik erzwingt volle Konzentration und gibt seine Geheimnisse und Details auch unter dem Kopfhörer nur nach und nach frei. Die 74 Minuten erfordern Stehvermögen, belohnen aber mit einem anregenden Hörerlebnis, das nicht so schnell seinen Reiz verliert.
 
Wer sich schon mit extravaganten Singer-Songwritern wie zum Beispiel Harry Nilsson, Bob Brown oder Tom Rapp auseinander gesetzt hat und es gewohnt ist, mit spektakulären Sichtweisen und Songideen umzugehen, der kann beim Hörerlebnis mit den neuen Kreationen von Joshua Tillman Glückgefühle erlangen. „Pure Comedy“ ist ein Werk, das als Ganzes betrachtet Sinn macht. Es beinhaltet ein Konzept, in das viele erstaunliche Ideen geflossen sind. Die Umsetzung erfolgt durch einen Musiker, der eine künstlerische Vision hat und gleichzeitig die Gabe, diese auch umzusetzen. Das drückt sich auch im aufwändigen Schallplatten-Layout aus: Die Doppel-LP besteht aus farbigem Vinyl (Aluminium und Gold) und einem Cover, bei dem der Hintergrund in vier verschiedene Ansichten umgestaltet werden kann. Für die künstlerische Ausstattung wurde zusätzlich der Cartoonist Ed Steed (The New Yorker) engagiert, der ein facettenreiches Wimmelbild entworfen hat.
 
Father John Misty setzt zum Karrieresprung an und änderte gleichzeitig sein äußeres Erscheinungsbild: Aktuell ist der üppige Vollbart einem altmodischen Schnauz-Bart gewichen. Am 23. März war Misty sogar in der Satiresendung „Neo Magazin Royale“ von Jan Böhmermann mit „Total Entertainment Forever“ zu sehen. Zusätzlich gibt es auf der Internetseite der Show noch eine exklusive Live-Version von „Pure Comedy“ zu sehen. Und um die Eingangsfrage zu beantworten: „Pure Comedy“ ist ein würdiger Nachfolger von „I Love You, Honeybear“ geworden. Die Songs werden provokant, engagiert und unangepasst angeboten. Sie zeigen eine konstante Form und verkörpern dadurch einen hohen Wiedererkennungswert, lassen aber trotzdem eine Entwicklung erkennen, die noch viele weitere Ausdrucksmöglichkeiten offenlässt. Das Werk ist ein Musterbeispiel für progressive Kompositionstechnik, bei der empfindsame Fühler für das Bewerte, Zeitlose und Ergiebige ausgestreckt werden.

Hier gibt es den beeindruckenden Making-Of-Film:

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