MOTORPSYCHO - THE TOWER (2017)

MOTORPSYCHO aus Norwegen setzen Maßstäbe, wenn es um die Entwicklung des Progressive-Rock im weiteren Sinne geht. Auch THE TOWER macht da keine Ausnahme. Umfangreiche Einblicke in das Herz des Monsters gibt es hier:

Die Rückkehr zur Ernsthaftigkeit. Motorpsycho begegnen dem verrückten Weltgeschehen mit wuchtigen und selbstbewussten Klängen.


Norwegen hat nicht nur die ausgedehnteste Küstenlandschaft Europas und eine beeindruckende Mitternachtssonne vorzuweisen. Das Land punktet außerdem noch mit einem fortschrittlichen Schul- und Sozialsystem. Aber vor allen Dingen hat es Motorpsycho hervorgebracht. Bent Sæther (Bass und Gesang) und Hans Magnus Ryan (Gitarre und Gesang) sind seit der Gründung 1989 dabei und prägen das vielfältige Gesicht der Gruppe. Waren die Musiker anfangs im Umfeld von Heavy-, Hard-, Progressive- und Psychedelic-Rock unterwegs, so kamen gegen Mitte der 1990er Jahre auch Einflüsse aus Country, Folk, Pop und Jazz dazu, die dem Sound eine enorme Bandbreite verliehen. Bei den Seitenprojekten der Musiker wie International Tussler Society, HGH oder Sugarfoot belegen die Norweger zudem eindrucksvoll, wie versiert sie im Umgang mit Americana-Strukturen sind.
Bent Sæther, Motorpsycho, zu "The Tower"
Motorpsycho sind nicht zu fassen, denn sie verharren in keinem Soundgewand, sondern rotieren in ihrem Klanguniversum, das von sinnlich-zart bis metallisch-hart reicht. Loteten sie auf dem Vorgänger „Here Be Monsters“ (2016) noch die Möglichkeiten aus, die der Psychedelic-Folk zulässt, so dehnen sie jetzt bei „The Tower“ Zeit und Raum rund um ein Konstrukt, das notdürftig als Progressive-Metal bezeichnet werden kann.
Der Opener „The Tower (Including The Wishboner)“ empfängt den Hörer mit verwunschenen Mellotron-Passagen, wie sie die frühen King Crimson oder Robert Wyatts Matching Mole Anfang der 1970er Jahre verwendet haben. Das sorgt für exotische Verzückung. Raue, aber beherrschte Gitarrenwände lösen dann den rauschhaften Eindruck aus und bieten stabile Klänge, die wiederum an King Crimson und deren „20th Century Schizoid Man“ (1969) denken lassen. Dieser Zustand ist nicht von Dauer, denn die Band setzt harmonischen Gesang gegen druckvolle Saiteninstrumente ein und überführt das Gebilde wieder in einen zerbrechlichen Schwebebereich. Nach diesem Muster wechseln sich harte und weiche Abschnitte ab, ohne dass die einzelnen Partituren zu übertrieben ausgedehnt werden. Dynamik- und Tempo-Wechsel finden mit Bedacht statt. Soli werden als Keil zwischen die sich abwechselnden Teile getrieben, so dass die Komposition nicht in Routine erstarrt und ausblutet.
Was bei weniger begabten Progressive-Rock-Bands abgedroschen, hohl und zu Tode gespielt klingt, wird von Motorpsycho zu neuem Leben erweckt und hat die bannende Wirkung eines intensiven Hörspiels. „Bartok Of The Universe“ vermittelt zunächst den Eindruck eines gewöhnlichen, zähen Metal-Tracks, gewinnt dann aber an Tempo und lässt plötzlich Klang-Kaskaden erblühen, die das Hirn öffnen und stilistisch dem Psychedelic-Rock nahe sind. Auch der Zick-Zack-Kurs von Frank Zappa-Kompositionen kommt zum Tragen, wird aber hier verträglicher als vom Meister des abrupten Wechsels angewendet. „A.S.F.E.“ bedeutet „A Song For Everyone“ und beinhaltet den unterdrückten Irrsinn von Black Sabbaths „Paranoid“. Es wird Druck gemacht, ohne dass dabei die Kontrolle verloren geht. Die Musik setzt Adrenalin frei. Das ist genau die richtige Dosis, die dabei hilft, den hektischen Alltag, der oft zur Normalität geworden ist, zu bewältigen.
Wo nimmt diese Band nur die Palette der vielfältigen Ausdrucksweisen her, die dann noch so überraschend und dabei verblüffend ausgereift präsentiert werden? „Intrepid Explorer“ beschwört den Geist des Pink Floyd-Gründers Syd Barrett und zeigt dadurch den schmalen Grat zwischen Genie und Wahnsinn auf. Das Stück wird schließlich zu einem abgehobenen, monotonen Trip ausgebaut, der sich anhört, als würden sich besagte Pink Floyd und Can zu einer Jam-Session treffen. Der Aspekt, Musik als Droge einzusetzen oder Drogenerfahrungen in Musik umzusetzen, wird hier genüsslich ausgelebt.
„Stardust“ erscheint als gediegener Folk mit Harmonie-Gesängen, die an Crosby Stills & Nash erinnern. Vielleicht ist der Song noch ein Überbleibsel aus den Aufnahmen für den Vorgänger. Jedenfalls passt er gut als Moment der Besinnung an diese Stelle. „In Every Dream Home“ entpuppt sich als strammer Rocker, der zwischen Stoner-Rock, Power-Pop und Art-Rock ausgependelt wurde: Der überschäumende Teil der Musik wird sozusagen mit dem munter-ausgelassenen und künstlerischen Aspekt in Einklang gebracht. „The Maypole (Including Malibu And Stunt Road)“ vereinigt dann Soft-Rock-Eleganz und-Folk-Bodenständigkeit mit der inspirierenden Kraft von fließenden Gitarren-Szenarien zu einer lichtdurchfluteten Angelegenheit.
Das epische „A Pacific Sonata“ nimmt sich viel Zeit zur Entfaltung und besitzt Bestandteile, die auch bei Pink Floyds „Wish You Were Here“ oder bei „The Fool“ von Quicksilver Messenger Service vorkommen. Die Atmosphäre und der Sound streifen die Hippie-Ära zur Zeit des Summer Of Love 1967 und die Art-Rock-Szene von Canterbury von Anfang der 1970er Jahre. Der in der zweiten Hälfte verwendete hypnotische Rhythmus-Loop hat dann eine ähnliche Sogwirkung wie Steve Reichs Minimal-Art-Meisterwerk „Music For 18 Musicians“, wobei Kunst, Flower-Power und theatralischer Art-Rock verschmelzen. Es zählt einzig und allein die Faszination für die Aneinanderreihung von anregend berauschenden Tönen. Wer sich im Geiste ausmalen kann, wie es klingt, wenn Soundgardens „Spoonman“ und „The Lamb Lies Down On Broadway“ von Peter Gabriels Genesis im Verhältnis zwei zu eins vermengt werden, der erhält eine gewisse Vorstellung davon, was sich bei „The Cuckoo“ abspielt. „Ship Of Fools“ ist eine fast 15minütige Klang-Orgie, die hypnotische Effekte, Standhaftigkeit, dramatische Elemente, barocke Feierlichkeit und Minimal-Art mit Progressive-Rock-Potential zu phantasievollen, Kollagen-haften Zyklen verarbeitet. Die Vielfalt vermittelt den Eindruck, als hätten die Künstler im Vorfeld „Pawn Hearts“ (1971) von Van Der Graaf Generator als Inspiration auf sich wirken lassen.
„The Tower“ ist ein Monster geworden, das offene Ohren, Unvoreingenommenheit und ein universelles Musikverständnis voraussetzt, um vorurteilsfrei genossen werden zu können. Aufgeschlossene Musikfreunde, denen Progressive-Rock zu anstrengend und prätentiös, Art-Rock zu abgehoben und Metal zu stumpf ist, können aber trotzdem Spaß an den Motorpsycho-Ausflügen haben. Dazu sollten sie sich einfach ohne Erwartungen auf diesen nebenwirkungsfreien und anregenden Trip mitnehmen lassen.
Motorpsycho haben die aktuelle Doppel-CD in Kalifornien mit ihrem neuen Schlagzeuger Tomas Järmyr aufgenommen. Der dort ansässige sonnige West-Coast-Rock hat zwar wenige, dafür aber auffallende Spuren hinterlassen. Der knorrige Desert-Rock von Kyuss oder Queens Of The Stone Age ist da schon präsenter. Unglaublich, welchen weiten musikalischen Horizont die Musiker abdecken: Ob Folk, Country, Surf, Power-Pop, Psychedelic- und Progressive-Rock, Jazz oder Metal - alles wird in einem bewusstseinserweiternden Sound-Wirbel verarbeitet und mit Hingabe neu zusammengesetzt, so dass die Ohren vor Erregung glühen und das Hirn Purzelbäume schlägt. Es gehört zwar Durchhaltevermögen dazu, die 85 Minuten in einem Rutsch durchzuhören, aber unter Umständen ist der Hörer nach diesem Erlebnis geläutert und bekommt ein Lächeln ins Gesicht gezaubert, weil sich ungeahnte Klangperspektiven aufgetan haben. Aber Obacht: Das ist nichts für Top-40- und Berieselungs-Konsumenten. Hier ist Einsatz und Mut zur Entdeckung gefragt. Das Cover-Motiv des Albums stammt übrigens vom Maler Håkon Gullvåg aus Trondheim in Norwegen und heißt „The Tower Of Babel“. Es gilt als Metapher für die Umstände, die während der Entstehung der Texte herrschten: Die Präsidentschaftswahl in den USA führte quasi zu babylonischer Sprachenverwirrung, denn Fake-News wurden als Wahlkampfmittel eingesetzt und führten zum Verlust einer sachlichen Kommunikation. Motorpsycho setzen dem Irrsinn mit „The Tower“ jetzt Offenheit, Freiheit in der Kunst, Kreativität und konsequentes Handeln entgegen.

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