THE VERVE - URBAN HYMNS (1997 / 2017)

URBAN HYMNS von THE VERVE ist rückblickend ein Klassiker des BritPop.

Die Rüpel von THE VERVE wurden erwachsen und ihr Pop bekam künstlerische Züge. Das war vor zwanzig Jahren und jetzt gibt es eine Neuauflage:

Der BritPop-Klassiker „Urban Hymns“ von The Verve wird zwanzig. Zeit für eine Neuauflage.

Jede Generation hat eine Hymne, die das derzeitige Lebensgefühl weitgehend übereinstimmend und ausdrucksstark widerspiegelt. Für die aufbegehrende Rock & Roll-Jugend der fünfziger Jahre drückte Elvis Presley mit „Heartbreak Hotel“ das Gefühl des Liebeskummers allgemeingültig aus. Bob Dylan widmete sich mit „Like A Rolling Stone“ 1966 den Ausgestoßenen und Einsamen. „Good Vibrations“ der Beach Boys ist vielleicht im selben Jahr unfreiwillig zum Loblied auf die Hippie-Ära geworden, während die Beatles mit „All You Need Is Love“ 1967 die Essenz der Philosophie der Blumenkinder auf den Punkt gebracht haben. Für die Punks der endsiebziger Jahre war der Slogan „No Future“, der im Song „God Save The Queen“ der Sex Pistols verwendet wurde, ein Statement ihrer Hoffnungslosigkeit.
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Für die BritPop-Jünger der endneunziger Jahre wurde die „Bitter Sweet Symphony“ zum Abbild der langweiligen Routine im Leben, der man kaum entrinnen kann. Die Komposition stammt von der 1989 als Verve gegründeten nordenglischen Band, die sich zur Abgrenzung an das gleichnamige Plattenlabel ab 1994 The Verve nannte. Kopf der Gruppe war der Sänger und Autor Richard Ashcroft, der auch heute noch eine erfolgreiche Solo-Karriere verfolgt. Vor 20 Jahren erschien der Song als Single und ist auch der Opener des dritten The Verve-Albums „Urban Hymns“, das im selben Jahr herausgebracht wurde. „Bitter Sweet Symphony“ war damals zwar ein Sommerhit, brachte der Band jedoch auch Ärger ein: Bei den Arrangements wurde ein Sample einer Streichersequenz der orchestrierten Fassung von „The Last Time“ der Rolling Stones verwendet, was auch von der Plattenfirma Decca erlaubt wurde. Für die USA lagen die Rechte jedoch beim Musikverlag Abkco, der Allen Klein, dem ex-Manager der Rolling Stones gehörte.
Dieser verklagte The Verve wegen Lizenzverletzung und deshalb musste ein nicht unerheblicher Anteil an den Verkaufserlösen erstattet werden. Pikanterweise wurden die Rolling Stones seinerzeit selber für die Verwendung von „The Last Time“ wegen Urheberrechtsverletzung verklagt, weil sie sich dafür beim Gospel „This May Be The Last Time“, den die Staple Singers 1961 veröffentlichten, großzügig bedienten. „Bitter Sweet Symphony“ ist auch heute noch für viele Leute wichtig. So hat Jochen Distelmeyer (Blumfeld) erst 2016 davon eine Coverversion für sein mit Lieblingssongs ausgestattetes Soloalbum „Songs From The Bottom Vol. 1“ aufgenommen. „Urban Hymns“ erschien zu einer Zeit, als der Kampf um den BritPop-Thron zwischen Oasis und Blur noch in vollem Gange war. Zusammen mit Pulp gehörten The Verve damals auch zu den Vorzeigebands dieser Bewegung. Entsprechend ambitioniert ist das Werk ausgefallen. Die Band suchte ihre Nische dieses Mal in einem großflächigen, häufig üppig gestalteten Pop für junge Erwachsene, die ihre Party-Phase weitestgehend hinter sich haben. Die Musik ist nachdenklich, selten von schnellerer Geschwindigkeit und damit eher fürs Wohnzimmer als für den Club geeignet.
Was die „Bitter Sweet Symphony“ so attraktiv macht, ist das parallele Ablaufen von Dur- und Mollakkorden und damit die musikalische Abbildung des wirklichen Lebens. Neben Frust und Melancholie gibt es eben immer wieder auch heitere und gelassene Momente zu verzeichnen.

Geschniegelter Soul und romantischer Pop, der Frauenherzen zum Schmelzen bringen kann, vereinigt sich für „Sonnet“. „The Rolling People“ durchläuft verschiedene Phasen, wobei Psychedelic-Soul angedeutet, herzhaft gerockt und verträumt gesponnen wird. Als Beweis für eine umfassende Plattensammlung und einen weitgreifenden Geschmack kommen dann noch Sequenzen von Aphrodites Child`s „All The Seats Are Occupied“ zum Einsatz.
Das klagende „The Drugs Don't Work“ ist unverschämt sentimental, kann aber in den richtigen Momenten auch ein Seelentröster sein. „Catching The Butterfly“ besitzt einen Rhythmus, der zu atmen scheint. Das Stück beginnt hypnotisch monoton wie eine Komposition der Krautrocker Can und prägt sich schließlich zu einem drogenschwangeren Art-Rock aus. „Neon Wilderness“ verläuft neblig, schlaftrunken und unorganisiert. Das ist in Konsequenz dann eher eine atmosphärische Skizze als ein Song. „Space And Time“ klingt wie ein Pop-infizierter Folk-Rock der Byrds, dessen Melodie von Tim Buckleys „Song To The Siren“ inspiriert wurde. „Weeping Willow“ schleicht mysteriös und besitzt eine beschwörende, wie ein Mantra ablaufende Komponente.
Ähnlich wie die „Bitter Sweet Symphonie“ fängt auch „Lucky Man“ konträre Stimmungen ein. Zeigt sich der Song anfangs noch bedeckt und reserviert, so hellt sich die Laune stetig auf, ohne aber in Euphorie zu verfallen. Das traurige „One Day“ soll Mitgefühl und Hoffnung ausdrücken, bewegt sich jedoch am Rande zur Schnulze. „This Time“ setzt auf die Kombination von unruhig pulsierenden Rhythmen mit einer strengen, suggestiven Melodie. Emotional schwer beladen startet „Velvet Morning“, um dann im Verlauf ab und zu von energischen Ausbrüchen heimgesucht zu werden. Das Finalstück „Come On“ wird mit über 15 Minuten Laufzeit gelistet. Zunächst wird ein arroganter, genervter und wütend gesungener Rocker serviert. Nach sechseinhalb Minuten tritt Stille ein und weitere sechseinhalb Minuten später folgt ein überflüssiger Hidden-Track mit Tonschleifen von einem weinenden Baby und ätherischem Geklimper.
Das Album ist zwar eindeutig dem BritPop der endneunziger Jahre zuzuordnen, gehört aber in die Kategorie „Rüpel werden erwachsen“. Die Sturm- und Drang-Jahre sind vorbei und die Musiker stellen sich Sinnfragen. Entsprechend bekommt die Musik vermehrt Moll-Töne zugeordnet und erhält einen künstlerischen Anstrich. „Urban Hymns“ ist während der vergangenen 20 Jahre in Würde gealtert. Die interessantesten Songs sind dabei die, die sich am weitesten vom klassischen BritPop wegbewegt haben.
Die Bonus-Disc enthält ein Konzert vom 24.05.1998 aus der Haigh Hall in Wigan, dem Heimatort der Band, das vor 35.000 Leuten stattfand, plus drei weitere Live-Mitschnitte. Im Gegensatz zu den Studio-Aufnahmen der feinfühligen „Urban Hymns“ werden in diesem großen Rahmen großmäulige Rock-Interpretationen und stadiontaugliche balladeske Versionen von The Verve-Songs präsentiert. Die Intimität der Lieder aus dem „Urban Hymns“-Fundus bleibt dabei weitgehend auf der Strecke (Ausnahmen: z.B. „The Drugs Don`t Work“ und „Lucky Man“). Das Publikum ist aber trotzdem total aus dem Häuschen. Wem diese Doppel-CD nicht genügt, das Jubiläum angemessen zu feiern, der kann zu der „5 CD + 1 DVD“-Ausgabe greifen. Diese enthält drei zusätzliche CDs mit B-Seiten, BBC Sessions und Live-Material sowie den Film des Haigh-Hall-Konzerts und Auftritte aus der „Later With Jools Holland“-Show.

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