John Carroll Kirby - Septet

 

John Carroll Kirby: Ein Jazzer mit Hang zum Wohlklang. 

Da sage noch jemand, Jazz-Musiker spielen immer dasselbe. Na gut, das würde niemand über Miles Davis oder Herbie Hancock behaupten, aber im allgemeinen bewegen sich Jazzer ausschließlich in der von ihnen gewählten Ausdrucksform. Egal, ob es nun Dixieland oder Free-Jazz ist. Systemsprenger gibt es zwar auch einige, sie sind aber nicht die Regel.

John Carroll Kirby ist nicht nur in diesem Zusammenhang ein Vorzeigemusiker: Der in Los Angeles geborene, lebende und arbeitende Künstler ist ein Stil-Chamäleon. Er kennt keine Scheuklappen, wenn es darum geht, mit und für andere Kollegen tätig zu sein. So hat er für so unterschiedlich ausgerichtete Musiker und Musikerinnen wie Miley Cyrus, Sebastien Tellier, Harry Styles, Norah Jones, Frank Ocean, Jonathan Wilson und Solange gearbeitet. Noch nicht berücksichtigt ist dabei seine Soundtrack-Arbeit zum Animations-Film "Cryptozoo".
Wahrscheinlich hängen Fleiß und Kreativität miteinander zusammen. Zumindest ist es Kirby gelungen, sich gute Ideen zu verschaffen, denn 2020 erschienen kurz hintereinander zwei unterschiedlich gestaltete Alben: Am 2. April das ruhige, meditative, spirituell erscheinende, vom Piano dominierte "Conflict" und am 22. April "My Garden", welches eine breite Palette aus der Kategorie des atmosphärisch-einfühlsamen Jazz aufzeigt. 

Die Idee zu "Septet" ist sogar noch älter. Im September 2019 fand ein Auftritt von Kirby (Keyboards), Deantoni Parks (Schlagzeug), Tracy Wannomae (Holzbläser), Logan Hone (Holzbläser), John Paul Maramba (Bass), Nick Mancini (Vibra- und Marimbaphon) und David Leach (Percussion) im Jazz-Club "The Blue Whale" in Los Angeles statt. Das brachte den Entstehungsprozess des aktuellen Werkes in Gang, das am 25. Juni 2021 als CD, Download und Doppel-LP mit drei Bonus-Tracks ("Sensing Dub", "Jubilee Dub", "Nucleo Dub") erscheint.

Kirby ist ein Tüftler und Sound-Architekt mit Weitblick und Traditionsbewusstsein. Das ist eine seltene Kombination, die originelle, ausgereifte, visionäre und erhellende Musik entstehen lässt. Solo-Einlagen sind dabei kein Selbstzweck zur Demonstration von Virtuosität, sondern dazu da, um interessante Fixpunkte zu setzen. Bei "Rainmaker" darf und kann alles passieren: Behaglicher Easy Listening-Sound, groovender Space-Jazz mit fiependen, quäkenden und quietschenden Synthesizern sowie dezenter brasilianischer Rhythmik bilden eine Sound-Ästhetik, die Coolness in Verbindung mit Schrulligkeit salonfähig macht. John Kirby erinnern die Tonfolgen sogar an "einen rotierenden Sprinkler, der an einem heißen Tag über den Rasen hin und her tuckert".
Querflöten sind nicht unbedingt ein Garant für reizvolle Unterhaltung. Zusammen mit ausgleichenden, tropfenden Marimba- und Xylophon-Klängen und weichen, synthetischen Streichern bilden sie für "P64 By My Side" die Basis für leichtfüßige Exotik. Es gibt also doch eine Welt zwischen New Age und Jazz. "P64" ist übrigens die Bezeichnung für einen wild lebenden Puma, der durch Los Angeles streift und das Stück soll die Vorstellung reflektieren, wie es wäre, dieses Tier als Haustier zu halten.

Unbekannte Kulturen scheinen bei "Sensing Not Seeing" mit mystischen Klangfarben zu locken, die heißblütig und leidenschaftlich in schnellem Takt und durch geheimnisvolle Rhythmen die Ohren und den Verstand verführen möchten. Das gelingt exquisit und lässt Klänge entstehen, die genauso Trance wie Ekstase erzeugen können. "Wo es traditionell ein improvisiertes Solo gäbe, unterstützt die Rhythmusgruppe einen stummen Instrumentalisten, als ob er durch die Dunkelheit wandert, ohne sich von etwas leiten zu lassen", so lautet die Eingebung, die Kirby bei der  Realisierung dieses Tracks hatte. 
Wie Santana auf Valium, so schläfrig wurde der Takt von "Swallow Tail" eingestellt. Über die lateinamerikanischen Rhythmen hinweg verteilt Kirby schmierige, betont künstlich klingende Synthesizer-Motive. Von den Flöten kommen folkloristisch-verträumte Sequenzen dazu und so ergibt sich eine melodische Klanglandschaft, die sowohl griffige Jazz-Grooves wie auch malerisch-dekorative Ton-Dichtungen liefert. Vögel und Schmetterlinge, die Kirby von seinem Fenster aus beobachten konnte, inspirierten ihn zu dieser Komposition.

"Weep" saugt die Bossa Nova auf und gibt sowohl ihre Melancholie wie auch die leichtfüßigen Rhythmen wieder ab. Das Keyboard modelliert den melodischen Verlauf auf intellektuelle Weise und das Vibraphon verbreitet noch zusätzliche stilvolle Extravaganz. "Jubilee Horns" wird durch spritzige Keyboard-Läufe eingeleitet, die in ein Solo übergehen, das sich temperamentvoll steigert. Die Bläser spielen also nicht die alleinigen Hauptrollen bei diesem Track. Sie werden vielmehr in einen warm fließenden, swingenden Latin-Sound eingebettet, bei dem das E-Piano lange die Führung übernimmt. Dann darf sich aber besonders die Flöte noch solistisch auszeichnen, bevor das Vibraphon nochmal für turbulentes Aufsehen sorgt.

Chico Hamilton war ein legendärer Jazz-Schlagzeuger, der unter anderem für Billie Holiday, Ella Fitzgerald, Lester Young und Miles Davis arbeitete. Ihm wird mit "The Quest Of Chico Hamilton" ein akustisches Denkmal gesetzt. Das Stück ist eine romantisch gefärbte Jazz-Ballade, bei der das E-Piano viel zu erzählen hat und quasi vor Mitteilungsbedürfnis überschäumt. Im Verlauf wird es dann vom ebenso gesprächigen Vibraphon überlagert. "Nucleo (Boy From The Prebiotic Birth)" beruht auf einem imaginären Schöpfungsmythos über einen Jungen namens Nucleo, der in einer präbiotischen Brühe gezüchtet wird und die Ur-Erde allein durchstreifen muss. Für den Track wird ein Stimmungsbild aufgebaut, dass an einen belebten Marktplatz erinnert, bei dem sich unterschiedliche Sinneseindrücke geschäftig begegnen.

Musik lebt von Inspirationen. John Carroll Kirby findet sie für "Septet" unter anderem bei den Schöpfungen von Bobby Hutcherson, Roy Ayers, Chic Corea oder Herbie Hancock aus den 1970er Jahren, als die Fusion von Jazz mit allem, was den Musikern in den Sinn kam, das große Ding in der Jazz-Szene war. Aber der Musiker, Produzent und Komponist ist klangtechnisch nicht festgelegt und zu einfallsreich, um sich auf einen bestimmten Retro-Stil reduzieren zu lassen. Schon in den 1950er Jahren gab es eine Jazz-Spielart, die sich Exotica nannte und besonders karibische und andere tropische Musik-Formen adaptierte. Es sollten fremde und freundliche Sehnsuchtsorte erschaffen werden, an die die Menschen aus ihrem Alltag flüchten konnten. Eine ähnliche Wirkung hat auch "Septet". Der Klang ist aufgrund seiner lieblich-abstrakten Fülle nicht nur für Jazz-, sondern auch für Pop-Ohren ansprechend. Außerhalb des Jazz finden sich solche Strömungen, die aufwendige, wohlklingende, orchestralen Arrangements einbeziehen, zum Beispiel in den Aufnahmen von den High Llamas, von Quantic oder von Stereolab wieder. John Carroll Kirby präsentiert sich als Allrounder, der mit seiner einfallsreichen Musik durchaus in der Lage ist, sowohl Jazz-, Weltmusik-, Pop und Soundtrack-Liebhaber zu beglücken.

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