Peter Hammill - In Translation

 Die Kunst der kreativen Übersetzung.

Ein Mann der Superlativen! Seit 1969 erschienen bisher 52 Solo-Alben und 16 Werke mit Van Der Graaf Generator. Nun veröffentlicht Peter Hammill mit "In Translation" seine - wenn ich mich nicht verzählt habe - 53. Platte unter eigenem Namen und seine erste, die ausschließlich Fremdkompositionen enthält. Peter "übersetzt" seine Lieblingsstücke, die eigentlich nicht in den Dunstkreis des Musikers zu passen scheinen, in eine individuell angepasste Welt- und Kunst-Sicht. Er entlockt den Vorlagen ihre Geheimnisse, stützt sich auf deren Qualitäten, sediert die Besonderheiten und interpretiert die Kernaussagen der Originale auf eigentümliche Weise. Ist das Ergebnis dann noch als Cover-Version zu bezeichnen oder handelt es sich schon um eine Transformation in ein anderes Kulturgut?

Obwohl Hammills Musik von jeher höchsten qualitativen und kreativen Ansprüchen genügte, ist sie bisher über den Status eines Insidertipps nicht herausgekommen. Außer in Italien. Vielleicht trägt der englische Musiker aus Bath auch deshalb als Dank und Würdigung eine Sportjacke mit der Aufschrift "Italia" auf dem Cover-Foto seines aktuellen Werkes. Die Platte "Pawn Heart" von Van Der Graaf Generator aus 1971 war nämlich in Italien ein Nummer 1-Hit. Die Band wurde daraufhin empfangen und hofiert wie Pop-Stars. Aus heutiger Sicht unfasslich, denn der innovativ-freie Art-Rock ist alles andere als Massen- und Charts-tauglich.

Aber zurück zu Hammill: Fünfzig Jahre nach dem Erscheinen seiner ersten Solo-LP "Fools Mate" kam am 14. Mai 2021 ein Werk heraus, das von März bis Dezember 2020 unter Corona-Bedingungen entstanden ist. Die Krisenstimmung hatte negative Auswirkungen auf das Verfassen eigener neuer Songs, aber was aus Beschäftigungsdrang entstand, wurde zu einer ausgedehnten Suche nach Einflüssen und Prägungen, die allesamt außerhalb des Art-Rock-Universums des Künstlers angesiedelt sind. Eine spannende Arbeits-Erfahrung begann sich zu manifestieren, die allerdings umfangreiche Vorarbeiten benötigte. So haben nur drei Songs im Ursprung einen englischen Text, alle anderen wurden von Peter übersetzt. Dann mussten Arrangements ausgedacht und alleine im eigenen Heimstudio eingespielt werden. "Ich habe mein Bestes getan, um den ursprünglichen Autoren und Interpreten treu zu bleiben und gleichzeitig meine eigene Art von Platte zu machen. Zumindest meiner Meinung nach sind sowohl die Thematik dieser Songs als auch ihr emotionaler Tenor stark mit der Zeit verbunden, in der wir gerade leben", schätzt Peter seine Arbeit ein.

Zu jedem Song hat er Anmerkungen im Booklet hinterlassen, die Hintergründe zur Auswahl erläutern und die im folgenden Text bei passender Gelegenheit zitiert werden. Beinahe schüchtern und unsicher tastet er sich an "The Folks Who Live On The Hill" aus dem Musikfilm "High, Wide, And Handsome" aus dem Jahr 1937 heran. Im selben Jahr wurde die sentimentale Ballade von Bing Crosby aufgenommen, sie erlangte aber besondere Beachtung in der anmutig-sensiblen Version von Peggy Lee, die 1957 erschien.
Für Hammill ist die Begegnung mit dieser Musik eine Kindheitserinnerung, die gemischte Gefühle auslöste. Denn die zur Schau gestellte "gemütliche Vertrautheit" der Peggy Lee-Version wird sowohl durch Vorfreude auf ein schönes Leben wie auch von Zukunftsängsten begleitet. Beruhigend-wehmütige Streicher-, Bläser- und Harfen-Töne hüllen den Text dazu in einen wohlig-weichen Kokon ein. Peter Hammill greift für seine Interpretation diese wolkig-melancholische Stimmung auf und reichert sie durch eine nüchterne, gezupfte halbakustische Gitarre, schwirrende Synthesizer-Töne und ein würdevolles Piano an. Die widersprüchliche Gefühlslage des Songs drückt Hammill durch seine flexible Stimmlage aus, indem er sowohl melodramatisch wie auch vertrauensvoll agiert.

Es ist also nicht nur an der Trainingsjacke mit der Aufschrift "Italia" - die Hammill auf dem Cover-Foto trägt - zu erkennen, dass er eine Liebe zur italienischen Lebensweise entwickelt hat. Die Auswahl der Song-Autoren aus Italien zeigt zudem, dass ihm auch die Kultur des Landes am Herzen liegt. 1979 wurde der italienische Chansonnier Fabricio de André entführt und vier Monate lang festgehalten. Nach seiner Freilassung komponierte er "Hotel Supramonte" im Stil eines ruhigen Leonard Cohen-Liedes. 
Die aktuelle Fassung berücksichtigt den Horror der Gefangenschaft durch gespenstische Hintergrund-Klänge. Die Dankbarkeit, mit dem Leben davon gekommen zu sein, wird durch optimistisch-unbeugsamen Gesang und eine kraftvolle E-Gitarre ausgedrückt.
Der Ursprung von Astor Piazzolas "Oblivion" ist ein instrumentaler Tango, der durch dessen gefühlvolles Akkordeon-Spiel aber dennoch irgendeine traurige Geschichte erzählt. 

Hammill baut seinen hinzugefügten Text auf das Vergessen als böswilliges Wesen auf, das darauf wartet, unsere Erinnerungen und damit eigentlich auch unsere Persönlichkeit auszulöschen. Für die Übersetzung eines adäquaten musikalischen Ausdrucks des Kidnapping-Horrors setzt er dabei auf verzweifelten Gesang, der sich in einem schwindelig-schwankendem Chanson-Noire windet und quält.

"Ciao Amore" vom italienischen Singer-Songwriter Luigi Tenco hat einen sehr bitteren Nachgeschmack erhalten: Das Lied war 1967 für den renommierten San Remo Festival-Preis nominiert, ging aber leer aus. Am Morgen danach fand man Luigi Tenco tot in seinem Hotelzimmer. Es gab zwar einen Abschiedsbrief, die genaue Todesursache konnte jedoch nicht geklärt werden, denn es blieben noch Fragen offen. 
"Das Lied selbst handelt von der Reise eines contadino (Bauern) von seinem Bauernleben auf der „weißen Straße“ in die entfremdende Welt der Großstadt - eine Reise, die viele in Italien, vor allem von Süden nach Norden, unternommen haben. In der Metropole angekommen, wird der Protagonist von der seltsamen Moderne der Welt entfremdet, weiß aber, dass er nicht zurück kann, nicht zu seinem alten Leben, nicht zu seiner alten Liebe. Die Originalversion ist merkwürdig optimistisch, da sie für den Erfolg im Songwriting-Wettbewerb und in den Charts ausgelegt war. Hier habe ich mir erlaubt, den Refrain dramatisch zu verlangsamen und an dem Punkt, an dem die Hoffnung verloren ist, in eine Moll-Tonart zu schicken", erläutert Hammill die inhaltlichen Zusammenhänge und seine Vorgehensweise.
Auch die Erinnerungen an "This Nearly Was Mine" aus dem Broadway-Musical "South Pacific" von 1949 reichen in die Kindheit zurück, denn die Plattensammlung von Peters Eltern bestand zu einem großen Teil aus Musicals. 
Hammill überführt die süßliche Theatralik in eine von Keyboards getragene Ballade, die zwar auch eine gehörige Portion Überschwang mitbringt, diesen aber so ausgestaltet, dass er sowohl als Parodie wie auch als traditionsbewusstes Stilmittel angesehen werden kann.

„Après un rêve“ ist ein klassisches Lied für Solostimme und Klavier von Gabriel Fauré, das im Jahr 1878 veröffentlicht wurde. Es geht darin um die Sehnsucht des Träumers, nach dem Erwachen wieder in den Schoß der Scheinwelt zurückkehren zu wollen. 
Aus der - wie Peter sich ausdrückt - "etwas zu stark parfümierten" Vorlage wird das leicht störrische Kunstlied "After A Dream", das ansatzweise bei den Brecht/Weill-Moritaten der 1930er Jahre zuhause ist.
"Das Gefühl von direktem Fatalismus kommt hier voll zur Geltung, und ich habe mein Bestes getan, um in diesen Geist einzutreten, obwohl meine eigenen Tage mit Whisky und Zigaretten jetzt weit hinter mir liegen. Ich hoffe, ich habe diesem Stück die nötige stolze Intensität verliehen", erklärt der britische Art-Rock-Künstler seinen Umgang mit "Ballad For My Death" von Astor Piazzolla (Originaltitel: "Balada para mi muerte (1968)).
Hammills Interpretation kommt wahrscheinlich dem nahe, was auch Nick Cave aus der Ursprungs-Idee gemacht hätte: Eine brennende Ballade mit brachialer Dramatik, unnachgiebig starkem Ausdruck und aufopferungsvoller Hingabe.
Peter Hammill berichtet, dass er schon mal als "die Shirley Bassey des Undergrounds" bezeichnet wurde. Da passt es ins Bild, dass er das ursprünglich italienische Chanson "I Who Have Nothing", welches die walisische Pop-Diva der 1960er und 1970er Jahre bereits 1963 aufnahm, jetzt neu verfasst hat. 
Peter betont "die Tatsache, dass es sich wirklich genauso um das Lied eines Stalkers wie eines verlassenen oder verlorenen Liebhabers handeln kann", weswegen er nicht die opulente Oberfläche, sondern den unheimlichen Charakter des Stückes darstellen wollte. Das gelingt sogar, ohne den attraktiven Pop-Appeal des Originals zu vernachlässigen.

"Il Vino" von Piero Ciampi aus 1971 habe eine "Fellini-artige Ästhetik", meint Hammill und findet, dass dieses Aroma auch "In Translation" "als Ganzes durchdringt". Vorbildfunktion hatten dabei Hal Willners Nino Rota-Interpretationen auf "Amarcord".
Das Trinklied "Il Vino" fällt schon deshalb in der aktuellen Darstellung aus der Rolle, weil sowohl instrumental wie auch vokal der Zustand des betrunken seins als Stilmittel verwendet wird, was den Song wanken und stolpern lässt.

"Kunst ist das Einzige, was man braucht, um sich zu erhalten, das einzig Wichtige im Leben für einen Ästheten wie den Sänger", erklärt der Van Der Graaf Generator-Vordenker die Überzeugung, die seinem Wirken zu Grunde liegt. "Lost To The World" (im Original: "Ich bin der Welt abhanden gekommen") von Gustav Mahler war der Ausgangspunkt für die Idee, "In Translation" zu realisieren. 
"Die Geschichte des Rückzugs aus der Welt ist natürlich passend für diese Zeit", findet Peter und überträgt das traurig-schöne Ursprungs-Beispiel in ein exzentrisches, verschrobenes Art-Pop-Stück.

"In Translation" erschließt ein neues Level in der langen Karriere von Peter Hammill. Zum ersten Mal ist er hauptsächlich Beobachter, Analytiker und Übersetzer und nicht in erster Linie der erschaffende Künstler. Diese Rolle füllt er mit derselben Vehemenz und Überzeugungskraft aus, wie die des individuellen Ton-Dichters. Somit ist das Album ein weiteres Highlight in der an Meisterwerken nicht armen Diskographie des mittlerweile 73jährigen Art-Rock-Veteranen.

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Waiting For Louise - Rain Meditation

Jahresbestenliste 2023

Lesestoff: Pop steht Kopf