Peter Hammill – Nadir`s Big Chance (1975) + Van Der Graaf Generator - Godbluff (1975)
1975 erschienen kurz hintereinander zwei Werke, die für mich immer noch zu
dem heißesten Zeug gehören, dem ich jemals lauschen durfte. Der unerschrockene
Songwriter, grenzenlose Visionär, ausdrucksstarke Sänger, exaltierte Gitarrist
und hingebungsvolle Pianist PETER HAMMILL war damals in seiner Sturm und
Drang-Phase. Sein Projekt VAN DER GRAAF GENERATOR lag schon ein paar Jahre auf
Eis, aber er rief seine Brüder im Geiste regelmäßig als Begleiter für seine
individuellen und geistreichen Solo-Eskapaden zusammen, um die gesammelten
Song-Ideen kongenial umsetzen zu lassen. So auch vom 1. bis zum 7. Dezember
1974. In dieser Zeit fanden die Aufnahmesessions zu NADIR`s BIG CHANCE statt.
Das Gebräu war so explosiv, anregend und intensiv, so dass dieses Produkt nicht
ausreichte, um den kreativen Druck vollends abzubauen. Es wurden nicht alle
Ideen aufgefangen und folgerichtig kam es vom 9. Juni bis 9. August 1975 zu
Aufnahmen, die in einer Reunion von VAN DER GRAAF GENERATOR kanalisiert wurden.
Und zwar in einer runderneuerten, energiegeladenen, kompakten Version der Band,
die 1971 mit PAWN HEARTS ihre letzte Platte mit ausufernden Art-Rock-Experimenten
herausgebracht hatte und jetzt mit GODBLUFF ihr Meisterwerk vorlegte. Beide hier
vorgestellten Ergebnisse sind jenseits bekannter und gängiger Schubladen
ausgefallen. Man kann es Art-Rock oder Prog-Punk nennen. Egal, wie man die
Musik einordnet, sie ist jedenfalls unangepasst, kraftvoll, phantasievoll und
kreativ und dadurch immer noch einzigartig und spannend.
„Nadir`s Big Chance“ beginnt mit Druck, ist aufwühlend und bissig. Energische Riffs, psychedelische Spielereien, ausdrucksvoll-lodernder Gesang und ein forscher Rock-Rhythmus verbindet sich zu einem stürmischen Auftakt. Bei „The Institute Of Mental Health Is Burning“ ist das Tempo gedrosselt und der Ablauf wird theatralisch, aber auch mit Humor umgesetzt.
„Open Your Eyes“ schäumt im Intro fast über vor Tatendrang. Der Song wird dann im mittelschnellen Tempo eingependelt und David Jackson spielt auf dem Saxophon Rock-Riffs, wie man es sonst nur von Gitarristen kennt. Hugh Banton sondert Orgeltöne ab, die unter Prog-Funk eingeordnet werden können und Guy Evans, einer der einfallsreichsten Drummer überhaupt, hält das Konstrukt wie immer grandios zusammen. Dazu singt Peter wie ein junger, entfesselter Gott.
„Nobodys Business“ ist beinahe schwermetallisch, bedrohlich, kratzbürstig und widerspenstig. „Been Alone So Long“ wird wunderbar verletzlich, einfühlsam und sanft vorgetragen. Jacksons Saxophon verbreitet dazu einen hymnischen Klang. „Pompeji“ trägt die ruhige und sachte fließende, melancholische, besinnliche Stimmung weiter. Der „Shingle Song“ ragt unter den ausnahmslos grandiosen Entwürfen besonders hervor. Die Spannung und Dramatik, die hier auf- und abgebaut wird, ist Gänsehaut erzeugend. Hammill deckt stimmlich etliche emotionale Facetten, wie Verzweiflung und Sehnsucht ab. „Airport“ beginnt als Singer-Songwriter-Ballade, bekommt dann einen energischen Einschub und endet wieder als zurückgenommener Pop-Song. „People You Were Going To“ ist ein Remake der ersten VAN DER GRAAF GENERATOR Single. Eine Pop-Melodie trifft dabei auf einen Kern aus schwelendem Rock`n`Roll. Umtriebig-strammen Art-Punk bietet „The Birthday Song“, während „Two Or Three Spectres“ zickig-eckige Funk-Elemente zu bieten hat, ohne wirklich Funk im engeren Sinne zu sein. So hört man auch Progressive Rock-Bestandteile, ohne dass es sich um Prog-Rock handelt. Der Song ist ein Zwitterwesen mit mehreren Persönlichkeiten.
NADIR`s BIG
CHANCE geht neue Wege. Hier findet eine echte Fusion von Stimmungen, Stilen und
Emotionen statt. Das Spiel mit der Variation von Dynamik, Tempo und Lautstärke
beherrschen die Musiker perfekt. Solch einen komplexen, aber dennoch
zugänglichen Sound findet man sonst nirgendwo. Hier geben sich Leidenschaft,
Energie und Einfallsreichtum ein Stelldichein und das Ergebnis ist zeitlose
Musik, die in keine Schublade passt.
Dieses
Konzept wurde für GODBLUFF auf den bandeigenen Kosmos ausgeweitet und führte
auch hier zu berauschenden Klängen. Nur sind jetzt die Stücke epischer und die
Strukturen komplexer. Mit „Undercover Man“ beginnt das Werk beschwörend,
zurückhaltend und lyrisch. Der Track verändert sich hinsichtlich der Ausführung
im Laufe seiner Spielzeit immer wieder, so dass die fast 10 Minuten wie im
Fluge vergehen. Der Song geht nahtlos in das sich furios aufbäumende „Scorched
Earth“ über, das im Prinzip über die gleichen Qualitäten wie sein Vorgänger
verfügt, aber aggressiver und fordernder durchgezogen wird. Das Opus endet in
einem stürmischen, brennenden, orgiastischem Finale, bei dem alle Beteiligten
Höchstleistungen vollbringen. Auch „Arrows“ spielt mit der Methode des
organischen Wachsens, Gedeihens, Vergehens und Erwachens. Hammill agiert wie ein
Meister des Untergangs, der bewusstseinsbeeinflussende Fähigkeiten hat und
diese bedingungslos ausspielt. Die Stimmung ist elektrisch aufgeladen, hat aber
auch immer wieder versöhnliche Momente parat. „Sleepwalkers“ zeigt neben allen
anderen schon beschriebenen Eigenschaften auch noch eine humorvolle,
komödiantische Seite, denn im Mittelteil gibt es eine schmierig-kitschige
ChaChaCha-Einlage. Der Abschluss ist dann durch ein hinreißendes, erhebendes
Riff-betontes Prog-Punk-Spektakel geprägt.
VAN DER
GRAAF GENERATOR haben ihren spezifischen, unnachahmlichen Sound durch eine
besondere Instrumentierung und die Bündelung von vier speziellen, eng
aufeinander abgestimmten Talenten und Persönlichkeiten gefunden. In diesem
Punkt kann man sie auch mit THE DOORS vergleichen. Hier führte auch ein
charismatischer Frontmann drei einfühlsame, charaktervolle, phantasievolle,
hochbegabte, visionäre Musiker, die sich untereinander blind, fast telepathisch
verstanden.
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