GRIZZLY BEAR - PAINTED RUINS (2017)

Da haben die intellektuell agierenden GRIZZLY BEAR mit ihrem fünften Album PAINTED RUINS einen ganz dicken Fisch an der Angel.

GRIZZLY BEAR lösen Stil-Zuordnungen auf und sind komplex und entspannt zugleich. Das ist sehr anregend mit einem hohen Unterhaltungswert.
Art-Pop gegen Intoleranz: Grizzly Bear setzen der Politik ihres Heimatlandes versöhnliche und verbindende Sounds entgegen.
Unter welchen Voraussetzungen wird Pop-Musik eigentlich grundsätzlich als fortschrittlich eingestuft? Wenn die Kompositionen relativ häufige Tempo- oder Dynamikwechsel aufweisen oder wenn komplexe Songstrukturen unter Einbeziehung von ausgedehnten Solo- oder Improvisationseinlagen vorliegen? Diese Merkmale sind typisch für den sogenannten Progressive-Rock, können aber übertrieben eingesetzt eher nervig als anregend aufgenommen werden. Avantgardistische Töne entstehen dann, wenn die Akteure interessante Aspekte ausleuchten und neue Muster sowie ungewöhnliche Verbindungen ausprobieren. Häufig unterscheidet diese Forschungsarbeit den engagierten vom etablierten Künstler, was aber nicht zu verallgemeinern ist.
Grizzly Bear wird in diesem Sinne gerne als kopflastige Band mit Anspruch wahrgenommen und gilt manchen als die amerikanische Antwort auf Radiohead. Aber wie viele Vergleiche ist auch dieser nur eine Krücke, um sich dem Sound der Gruppe beschreibend zu nähern. Genauso gut könnten Vergleiche mit experimentellen Bands aus den 1970er Jahren wie Gentle Giant oder Grateful Dead herangezogen werden, die allerdings auch nur notdürftig erklären, was hier passiert. Aber „Painted Ruins“ ist kein Konstrukt, das man sich hart erarbeiten und mühevoll schön hören muss. Die Platte dient als Quelle von bewusstseinserweiternden Ideen, die auf den Hörer einprasseln und seine Sinne schulen und massieren, was zu innigem, versunkenem Hörvergnügen führen kann. Diese Eindrücke werden jedoch mit leichter Hand geschmeidig-gefühlvoll umgesetzt und spielen sich im Umfeld von Folk, Jazz und intellektuellem Rock ab.
Man stelle sich vor, Midlake und Radiohead würden gemeinsame Sache machen, dann könnte dabei sowas rauskommen wie „Wasted Acres“. Pop wird zu Kunst und die Grenzen zwischen Westcoast-Rock, Progressive-Rock und Jazz verwischen vollends. „Mourning Sound“ bewegt sich an der Schnittstelle zwischen Electro-Folk und Pop. Prefab Sprout fallen dabei als Arrangement-Referenz ein und New Order als Taktgeber. Wenn sich Art-Rock-Bands genötigt sehen, sich dem Pop zu nähern, dann ist das Ergebnis häufig klebrig, bemüht und zäh. Bei Grizzly Bear ist das anders. Die Kreation pulsiert mit einem knackigen Electronic-Pop-Rhythmus und die Melodik läuft flüssig und unkompliziert ab.
Painted Ruins - Grizzly Bear: Amazon.de: Musik
Rein wie Schnee präsentiert sich „Four Cypresses“. Der Gesang gleitet galant über den filigran und jazzig swingenden Notenteppich dahin und wird durch ein versonnen rauschendes Mellotron unterstützt. Minimal-Art- und Jazz-Rhythmik kreuzen hier unter Hinzunahme einer beweglichen Soft-Rock-Melodik die Klingen. Der ätherische Hippie-Folk der Fleet Foxes kann bei „Three Rings“ als Referenz für die Beschreibung der Darstellungsweise von Grizzly Bear herangezogen werden. Hypno-Rhythmen, grummelnde Bass-Laute, Gitarrensticheleien und Drum-Break-Beats versorgen den Track mit belebenden, extravaganten Elementen. Ein nervöses Jazz-Schlagzeug gibt neben einer gemäßigt-aggressiven, monotonen Rhythmus-Schleife den Takt vor. Davon lässt sich der ausgeglichene Gesang allerdings nicht beeinflussen, denn dieser bewegt sich unbeeindruckt gemächlich voran.

„Losing All Sense“ verschmilzt Rhythm & Blues mit Electro-Pop auf gutmütige und verspielte Weise. Für „Aquarian“ und „Cut Out“ werden füllende, klanggebende Elemente des Progressive-Rock der 1970er Jahre in der Tradition solcher Bands wie Yes, King Crimson, Caravan oder Audience verarbeitet. Dadurch erhalten die Kompositionen eine dramatische und phantasievolle Komponente. Die sonnig-lässige Harmonie des Westcoast-Rock hat bei „Glass Hillside“ Einzug gehalten und lässt den Titel elegant glänzen und funkeln. „Neighbors“ bekommt den Spagat zwischen rührseliger Sentimentalität und eindringlicher Betroffenheit durch eine reichhaltige und abwechslungsreiche Instrumentierung und dynamische Abstufungen hin. Außerdem produziert die Melodie jede Menge positive Energie, die zu einem aufbauenden Hörerlebnis beiträgt. Eine feierliche, sakrale Stimmung überlappt sich bei „Systole“ mit folkloristischen, luftigen Tönen. Bei „Sky Took Hold“ sind die nervösen Beats neben den schwebenden Mellotron-Passagen und den kurzen Gitarrenfanfaren nur wenige Beispiele für die eingesetzten Stilmittel, die den als Ballade ausgelegten Titel abwechslungsreich gestalten.
Beinahe wäre das neue Album des 2004 in Brooklyn gegründeten Quartetts gar nicht zu Stande gekommen. Nach „Shields“ (2012) gingen die Musiker ihrer Wege, kümmerten sich um Privates oder probierten eigene Projekte aus. Die Besinnung auf die Bandaktivitäten begann im März 2015 mit dem Austausch von Ideen über einen Dropbox-Account. Sehr langsam wurden aus losen Stimmungsbildern zunächst Demo-Aufnahmen, bevor sich verwertbare Songstrukturen herausschälten. Aber der Ehrgeiz war geweckt, aus dieser Aktion ein neues Werk entstehen zu lassen. Die gefühlte innere Spaltung der USA, die durch die aktuelle Politik verursacht wird, geht nicht spurlos an den Musikern vorbei. Obwohl sie keine offensichtlichen Protest-Songs schreiben, möchten sie mit ihrer Musik ein Klima des Mitgefühls und der Menschlichkeit vermitteln, das Annäherung statt Spaltung symbolisiert. So entsteht ein künstlerischer Ausdruck des versöhnlich-verbindenden Weltverständnisses, der von den an der Entstehung der Musik beteiligten Personen ausgeht. „Pet Sounds“ der Beach Boys war 1966 als opulente Teenager-Symphonie für Gott konzipiert worden. „Painted Ruins“ erscheint als zwischenmenschlicher Hoffnungsträger, der in Interaktion mit der Allianz der Vernünftigen steht. Die Lieder vermitteln ein ähnlich homogenes, vielschichtiges, betriebsam-friedfertiges Bild wie die Stücke auf dem Beach Boys-Meisterwerk.
Das fünfte Album von Ed Droste (Haupt-Sänger und -Songwriter) und den Multiinstrumentalisten Daniel Rossen, Christopher Bear und Chris Taylor kann unter anderem als episch, komplex und überraschend bezeichnet werden. Die neuen Sounds zeigen bei bekannter Ernsthaftigkeit auch eine aufgeräumte, lebendige und körperliche Seite. Das Erstaunliche ist, dass Grizzly Bear bei ihren Schöpfungen eine echte Verschmelzung von Stilen erreichen. Es zählt also einzig und allein die Wirkung der Schwingungen, die Zuordnung zu Musikrichtungen ist völlig unerheblich. Schubladendenken wird so aufgelöst. Wer sich Zeit zur Entdeckung dieses Klang-Kosmos nimmt, wird mit einem Kaleidoskop aus verführerischen Tönen verwöhnt. Diese sind in der Lage, den Zuhörer in eine fiktive Welt zu entführen, in der nur die Verbundenheit mit der Musik zählt und alles Weltliche ausgeblendet werden kann. Welch eine nahezu perfekte, betörende Pop-Art-Ästhetik!

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