Tingvall Trio - Dance (VÖ: 02.10.2020)

Am Anfang war der Tanz. Als der Jazz um 1900 in den Südstaaten der USA von der afro-amerikanischen Bevölkerung zunächst als Ragtime entwickelt wurde, diente er dazu, den ausgelassenen Bewegungsdrang der Menschen zu befriedigen. Auch Dixieland und Swing zwangen die Menschen aufgrund des ansteckenden Schwungs auf die Tanzflächen. Der Bebop, der in den 1940er Jahren populär wurde, hatte da schon sehr viel mehr Improvisationsanteile und markierte den Anfang des intellektuell geprägten Modern Jazz. Seitdem gab es diverse Spielarten, die entweder eingängig oder komplex klangen. Beim Jazz gibt es bis heute keinen Stillstand: Es werden immer wieder Genre-fremde Stile eingebunden, Traditionen aufgearbeitet und verschiedene Instrumentierungen ausprobiert.

Das Tingvall Trio bereicherte 2006 mit dem Studioalbum "Skagerrak" die gediegene, verspielte und neugierige Jazz-Szene. Nach einer dreijährigen Veröffentlichungs-Pause seit "Cirklar" ist "Dance" nun schon Studioalbum Nummer sieben. Dazwischen lagen Auszeichnungen und erfolgreiche Tourneen, die den Musikern einen guten, gefestigten Ruf einbrachten. Engagements neben der Trio-Arbeit erweiterten den Horizont und erschlossen neue Möglichkeiten. So arbeitete der schwedische Pianist Martin Tingvall mit Udo Lindenberg zusammen. Der deutsche Schlagzeuger Jürgen Spiegel nahm 2019 ein Album mit dem polnischen Pianisten Vladyslav Sendecki auf (Sendecki & Spiegel - "Two In The Mirror") und der Kubaner Omar Rodriguez Calvo (Bass) war ohnehin ständig ein gefragter Session-Musiker und Fotograf. 

Aber zum "tanzbaren Jazz" ließ sich der bisherige Output der international besetzten Formation trotz deutlicher Einflüsse aus Pop, Rock und Latin wirklich nicht zuordnen. Die Idee, Tanz-Rhythmen rund um die Welt einzusammeln, entstand bei der Probe zum neuen Stück "Cuban SMS". Die Künstler fühlten sich von der Komposition ungeheuer angeregt. Deshalb ging man musikalisch weltweit auf die Suche nach belebenden Zutaten und entdeckte im Orient, auf Jamaika, in Spanien und in Latein-Amerika spannende Takte, die zu weiteren Anregungen führten.

Das transparente Klangbild der aktuellen Aufnahmen hilft dabei, auch kleinste Anspielungen an die Titel der Kompositionen herauszuhören oder zumindest zu erahnen. So lassen die feinen, hohen Piano-Töne am Anfang von "Tokyo Dance" an feingliedrige, japanische Miniaturen denken. Martin Tingvall erhöht hier die Dynamik, indem er wirbelnde, donnernde Klavier-Akkorde absondert, die in der Tradition eines McCoy Tyner stehen. Er kehrt aber immer wieder zu sanften Momenten zurück, die von Jürgen Spiegel im Hintergrund ständig unter Strom gehalten werden. Wie man sich denken kann, kommt auf ihn bei der Rhythmus-Gestaltung eine besondere Herausforderung zu, da Tänze nun mal in der Regel treibende Takte verlangen. Omar Rodriguez Calvo bleibt ganz cool und steuert wuchtig-gelassene Bassläufe bei.
 
Ethnische Trommelklänge gehen bei "Dance" relativ schnell und elegant in swingende Jazz-Cluster über, so dass der Track den Tanz universell und nicht speziell betrachtet. Der melodische und fantasierende Anteil ist sogar deutlich höher ausgeprägt als die körperlich stimulierenden Anteile.
Bei "Spanish Swing" ist der Name Programm. Der Titel wird mit tollkühner spanischer Folklore geimpft und prescht dadurch übermütig und ungebremst voran. 
 
Als Tanz gehört "Flotten" eher zu den langsamen Ausdrucksformen oder zum Ballett. Der Track erzeugt balladeske Windungen und lebt von den bewährten Wirkungsweisen des Tingvall Trio: Alle drei Musiker bekommen nämlich Raum, sich handwerklich auszuzeichnen und ergänzen sich dabei prächtig. "Riddaren" wirkt überwiegend heiter. Die Fröhlichkeit kommt jedoch von innen, ist bescheiden und nicht ausgelassen oder überschäumend. Hier tanzen die Gedanken, aber nicht die Extremitäten.

"Cuban SMS" war also der Auslöser für die "Tanz-Idee". Und ja, der Titel macht ordentlich Tempo und die wild-ausgelassen klappernde Percussion trägt den Hörer gedanklich in die Karibik. Alle Beteiligten absolvieren ein hohes Energie-Pensum, was in Summe zu einem stark verdichteten, impulsiven Sound führt. Zwischen Thriller-Jazz und exotischer Verspieltheit pendelt "Arabic Slow Dance" und nimmt so auch die sinnliche Mystik des Bauchtanzes in sich auf.

Das Piano läutet für "Puls" einen dynamischen Parforce-Ritt ein, bei dem das Stück ständig am Brodeln gehalten wird, auch wenn das Piano manchmal in ruhige Gefilde übergeht. Jürgen Spiegel bleibt auch dann aufmerksam und lässt es krachen, klacken und rumsen, als ginge es um sein Leben. Omar Rodriguez Calvo baut Spannung auf, ohne sich zu sehr in den Vordergrund zu spielen. Dabei behält er die Übersicht und hält alle Fäden zusammen.

Einen direkten Bezug zum Tanz lässt sich bei "Det Lilla" nicht unbedingt sofort erkennen. Die Komposition trägt sowohl romantische wie auch als Tondichtung ausgeprägte Züge. Sie lädt somit in erster Linie zum Nachdenken und Innehalten ein. Reggae stand bei "Ya Man" als Taktgeber Pate und verleiht der Komposition dadurch eine gewisse Körperlichkeit. Interessant ist dabei der Gegensatz, der durch das kultiviert-verstandesmäßig aufgebaute Klavierspiel entsteht.

Der "Bolero" gewinnt nur allmählich an Leidenschaft, groovt sich langsam auf einen strammen Tanzschritt ein und wächst mit der Steigerung der Vehemenz zu einem starken, selbstbewussten Stück heran. Die "Sommarvisan" (= Sommerlied) betitelte Komposition wartet mit einer Melodie auf, die leicht und eingängig wie ein Volkslied sein kann. Würde sie nicht durch freigeistige Auslegungen torpediert, verändert und umgekrempelt werden. "In Memory" ist ein traurig gestimmter Track. Durch die sensible Vortragsweise denkt man sofort ans Abschied nehmen oder es kommen sehnsuchtsvolle Erinnerungen in den Sinn.

Nicht alle Stücke auf "Dance" suggerieren oder provozieren Bewegung. Manchmal geht es auch um fiktive Tänze oder einfach um das Leben als Tanz durch die Zeiten. Das Tingvall Trio hat eine Ebene des Zusammenspiels erreicht, bei dem sich die drei Akteure optimal ergänzen und offensichtlich blind verstehen. Die aktuelle Ausweitung des rhythmischen Spektrums hat ihnen augenscheinlich Spaß gemacht und mobilisierte zusätzliche Assoziationen. 

Jetzt würde ich mir bei allem Erstaunen über die virtuosen Fähigkeiten wünschen, dass das Tingvall Trio in Zukunft ihren Klangraum noch weiter ausweitet. Andere Mitspieler, neue Stil-Fusionen und ein Sprengen des üblichen, erwarteten Jazz-Rahmens könnte die Formation in ungeahnte Sphären katapultieren. Die Möglichkeiten dazu besitzen die Musiker allemal.

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