Susanna & David Wallumrød - Live

Der exklusive Reiz der diskreten Inspiration.

Ein Reiz ist eine äußere oder innere Einwirkung auf den Organismus. Er kann demnach sowohl den Körper wie auch den Geist stimulieren. Ein exklusiver Reiz in Form einer diskreten Inspiration ist häufig auch der Ausgangspunkt für die Idee, eine Fremdkomposition speziell zu interpretieren. Wertschätzung und ein sensibles Einfühlungsvermögen sind weitere wichtige Voraussetzungen dafür.

Die Sängerin und Komponistin Susanna Karolina Wallumrød hat bereits Musikgeschichte geschrieben, zumindest wenn es darum geht, anspruchsvolle Pop-Musik individuell zu definieren. Nicht nur als Susanna & The Magical Orchestra oder unter der Bezeichnung Susanna & The Brotherhood Of Lady ist ihr ein origineller Art-Pop auf sehr hohem Niveau gelungen. Aber auch das Nachspüren von anderen Song-Quellen ist ihr nicht fremd. So spielte sie zum Beispiel mit der Schweizer Harfenistin Giovanna Pessi 2011 "If Grief Could Wait" mit Songs von Henry Purcell, Leonard Cohen und Nick Drake ein. Diese Musik nahm sogar das ehrwürdige, feinsinnige ECM-Label unter seine Fittiche. Und mit "Baudelaire & Piano" erschien 2020 ein Solo-Werk zu Ehren des französischen Dichters Charles Baudelaire, das intensiv und pur nur mit Gesang, Pfeifen und Piano die angenehme Seite der Nachdenklichkeit einfängt. 

Kurz vor der Pandemie absolvierte die Norwegerin dann zusammen mit ihrem Cousin David - der diverse Keyboard-Sounds und gesangliche Hintergrund-Verstärkung beisteuerte - in Oslo (September 2019) und Asker (Januar 2020) eine Reihe von Cocktail-Bar-Konzerten, die auch durch Cover-Versionen gespeist wurden, welche die beiden schon zum großen Teil bereits vor 20 Jahren gespielt, aber nie aufgenommen haben.
Von diesen "Live"-Aufnahmen werden jetzt acht Lieder offiziell veröffentlicht und sie zeigen eine große Verbundenheit mit den ausgewählten Kompositionen und ihren Erfindern. Susanna & David Wallumrød haben eine klare Vorstellung davon, wie aus ihrer Sicht mit verehrten Vorlagen umgegangen werden sollte: Ihre Interpretationen drücken sowohl eine kreative Herangehensweise wie auch Respekt gegenüber des Ursprungs aus. 

Den Song "Chelsea Hotel #2" veröffentlichte Leonard Cohen 1974 auf seinem Album "New Skin For The Old Ceremony". Er handelt von seiner kurzen, heftigen Affäre mit Janis Joplin in dem New Yorker Künstlerhotel. Cohen schildert darin die Beziehung etwas wehmütig, aber dennoch mit schonungsloser Offenheit mit abgeklärtem Abstand. 
David Wallumrød legt einen dunklen, dezent wehenden Keyboard-Klangteppich über den Song, den Susanna mit ihrer klaren, sanft fließenden Stimme durchdringt, ohne die Melancholie abzuschütteln. Sie gleitet förmlich auf den Moll-lastigen Noten dahin und wärmt sich an den traurigen, aber tröstenden Schwingungen.
Auch "This Flight Tonight" von Joni Mitchell entstand aus einer tragischen Liebesbeziehung. Ihre Liebe zu Graham Nash war zerbrochen und die Affäre mit James Taylor gestaltete sich wegen seiner Heroinsucht zunehmend komplizierter. In dieser Phase nahm Joni 1971 das bitter-süße "Blue" auf, welches "This Flight Tonight" als Zustandsbericht ihres Verhältnisses zu James Taylor enthält. Der mild groovende Country-Folk wird dort durch mehrere verschachtelte Akustik-Gitarren-Spuren dynamisch aufgewertet und erhält wegen der eigentümlichen, hohen Stimme von Joni einen unverwechselbaren Charakter.
"Live" präsentiert das Lied als glitzernd-sphärisches Electronic-Folk-Stück mit teils lautmalerischem Gesang, der durch den Hall wie aus einer fremden Welt zu uns zu kommen scheint.

Eine zentrale Position nehmen drei Tom Waits-Kompositionen auf "Live" ein, welche alle von dessen "Swordfishtrombones" aus 1983 stammen. Die manchmal surreal wirkende Musik berichtet gerne von Außenseitern und transportiert den sperrigen Charme von Brecht/Weill-Liedern oder übernimmt primitive, ruppig-dreckige Blues-Fetzen und verwendet Klangfarben aus exotischen Ländern zur kuriosen Dekoration. "Underground" ist der Opener des 15 Tracks starken Werks und zeigt Waits als aggressiven Shouter mit gurgelnder Stimme. Seine Mitstreiter schaffen dazu einen schräg rumpelnden Hintergrund, auf den Don van Vliet alias Captain Beefheart stolz gewesen wäre.
Die "Live"-Version von "Underground" hat einen anderen Blickwinkel: Der Song erscheint als nervöser Thriller-Jazz mit extravagant-aggressiven sowie provokativen E-Piano-Figuren, die klangliche Splitterbomben werfen. Susanna kommt gegen diesen störrischen Krach kaum an, trägt ihren Text dennoch unbeeindruckt und stoisch vor.

"Gin Soaked Boy" fällt im Original als sumpfiger, brodelnder und böser Blues mit fieser, effektiv-dominanter E-Gitarre auf. Der kompromisslos provokante Ausdruck erinnert an die Blues-Legende Howlin` Wolf.
Das norwegische Duo verzichtet auf Dreck und Bösartigkeit, setzt stattdessen auf einen straffen Schwung und manifestiert einen groovender Jazz-Rock, der mit einem schmierigen Synthesizer-Bass-Solo protzt.

"Johnsburg, Illinois" ist ein Liebeslied, das Tom Waits für seine Frau geschrieben hat. Die Künstlerin Kathleen Brennan ist nämlich in Johnsburg, Illinois aufgewachsen. Der Track entpuppt sich beim Verfasser als bluesige Jazz-Ballade, die von einem sentimentalen Bar-Piano getragen wird.
Im Gegensatz zum knurrigen Gesang von Waits schwingt sich Susanna hinauf in schwindelnde Höhen, in denen sie das Lied engelsgleich und verträumt als Space-Pop umdeutet. 

Es ist überliefert, dass nicht das romantisch gefärbte Original von "Wrecking Ball", das Neil Young 1989 auf "Freedom" untergebracht hat,
sondern die dunkel glühende Variante von Emmylou Harris, die Daniel Lanois 1995 auf ihrem "Wrecking Ball"-Album produktionstechnisch in ein schwül-vernebeltes Ambient-Country-Gewand gesteckt hat, größeren Eindruck bei den Wallumrøds hinterlassen hat.
Jetzt beweisen sie, dass "Wrecking Ball" immer noch als berührender Song funktioniert, selbst wenn die Geschwindigkeit weiter reduziert wird. Stehen bei anderen Songs dieser Gattung häufig gescheiterte Beziehungen im Mittelpunkt, so geht es hier jedoch um den Anfang einer Liebe. Um das Werben, Kennenlernen und Komplimente verteilen. Mit dem "Wrecking Ball" ist nämlich in diesem Fall nicht eine Abrissbirne, sondern eine Tanzveranstaltung gemeint.

Es gibt sowas wie definitiv ausgeprägte Songs, also optimal gelungene Notenzusammenstellungen, die von niemandem übertroffen werden können. Das gilt auch für das christlich geprägte, markig-liebliche Endzeit-Lied "All My Tears" von Julie Miller, das erstmalig 1993 auf "Orphans And Angels" zu Gehör kam und in der ultimativen Fassung auf der "Broken Things"-Platte von 1999 zu finden ist. Zusammen mit ihrem Ehemann Buddy - der hier eine beeindruckend intensive E-Gitarre spielt und eine markant-leidenschaftliche Duett-Stimme beiträgt - entstand ein Song, der zum definitiven Country-Rock-Klassiker taugt.
Das wird auch Susanna & David klar gewesen sein, denn sie haben gar nicht erst versucht, in ähnlicher Weise zu brillieren. Ihre Interpretation lehnt sich am introvertierten Jazz mancher ECM-Records-Einspielungen an und beginnt mit einem fast vier Minuten langen Keyboard-Part, der weltmusikalische, schwebende Flöten-Tönen absondert, bevor Susannas inniger Gesang einsetzt und das Stück in Wehmut baden lässt.
Hier schließt sich hinsichtlich der Auswahl der Fremdkompositionen einmal mehr ein Kreis, denn "All My Tears" ist auch Bestandteil des "Wrecking Ball"-Albums von Emmylou Harris. Ihr Beitrag war ein hymnisch-sehnsuchtsvoller Track, der seine Energie aus pulsierend-pumpenden Bass-Tönen bezog.
Die Lieder der Beatles sind fast alle Evergreens geworden und haben damit den Status von allgemeingültiger Pop-Folklore erworben. Dazu gehört hinsichtlich der Qualität auch das barocke Trennungs-Lied "For No One" (von "Revolver" aus 1966), das Paul McCartney schrieb und mit desillusioniertem Gesang ausstattete.
In den Händen von Susanna & David wird daraus ein zerbrechlicher Pop-Song, dessen Instrumentierung an ein Spinett erinnert, wodurch auch hier ein gewisser Klassik-Bezug hergestellt wird. 
Fun Fact: "For No One" hat auch von Emmylou Harris im Jahr 1975 auf "Pieces Of The Sky" hinreißend sentimental gecovert. 
Die "Live"- Zusammenstellung erweist sich also in jedem Punkt als runde Sache. 

Erst nach dem letzten Song (also "Johnsburg, Illinois") ertönt Applaus. Allerdings nicht so euphorisch, wie es aufgrund der großartigen Musik angebracht wäre. Wegen der Ausblendung des Beifalls und weil sich das Publikum auch sonst so ruhig verhält, dass man es während der Konzerte nicht wahrnimmt, fügt "Live" das Beste aus zwei Welten zusammen: Die Spontanität und Spannung eines Auftritts mit den von Fremdgeräuschen ungestörten, konzentrierten Studio-Arbeiten. 

Die Auswahl der Kompositionen ist erlesen und ihre Deutung lässt ein einfallsreiches Engagement und stilistische Cleverness bei den Arrangements erkennen. Der saubere, klare Gesang von Susanna sollte selbst Menschen mit "Elfen-Phobie" gefallen, weil stets eine sinnliche Komponente mitschwingt. Und die wallende Keyboard-Begleitung ist nicht nur etwas für Ambient-Fans, weil neben Klangmalereien auch melodisch anspruchsvolle Abläufe generiert werden. Die Reize, die von den Ideen der Idole ausgehen, haben zu einer Schärfung der individuellen Stärken von Susanna & David Wallumrød geführt. Der Vergleich mit bisherigen Premium-Cover-Versionen verdeutlicht, dass es den norwegischen Musikern gelungen ist, weitere bisher unbekannte Ansichten und Nuancen der Originale hervortreten zu lassen. "Live" ist dadurch ein vorbildliches Tribut-Album geworden.

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