Joan Shelley - Over And Even (2015)
Die Kraft der leisen Töne. Joan Shelley erteilt eine Lehrstunde zum Thema „The Quiet is the new loud”.
Die Folk-Frau Joan Shelley aus Kentucky bildet auf ihrem aktuellen Album eine Symbiose mit ihrem Akustik-Gitarristen Nathan Salsburg. Diese Verbindung darf man durchaus mit den zart-intimen, souveränen Kreationen des Gespanns Gillian Welch und David Rawlings vergleichen, die im Zuge des „O Brother, Where Art Thou?“-Soundtracks zum Cohen Brothers-Movie ins Licht der Öffentlichkeit gerieten. Weitere Mitspieler bei „Over And Even“ sind bei Bedarf James Elkington (Orgel, Percussion, E-Piano, Steel-Guitar), Dan Dorff (Percussion, Keyboards), Rachel Grimes (Piano) sowie Will Oldham alias Bonnie Prince Billy und Glen Dentinger als Background-Sänger. Joan spielt akustische Gitarre und singt dazu mit klarer, sympathischer, warmer Stimme. Ihr Gesang strömt wie Samt und Seide durch die Gehörgänge und die Melodien erklingen erlesen, aufgeräumt und gelassen.
Wie jede große Folk-Musikerin öffnet sie weit ihr Herz und verteilt die Seele streichelnde Klänge. Hinsichtlich ihrer Tiefenwirkung steht sie dabei in der Tradition von Kate Wolf und sie besitzt außerdem die Sensibilität einer Sandy Denny. Auf sanfte Weise erobert Joan den Hörer. Sie wirkt glaubhaft und demütig, zugleich auch intensiv und charmant. Die Arrangements sind luftig und unaufdringlich gehalten, die Produktion ist technisch makellos, ohne steril zu sein. Die Aufnahmen entstanden in einer Scheune in Kentucky, viele Songs schrieb die Künstlerin jedoch auf einer griechischen Insel. Diese Wechselwirkung zwischen Ferne und Heimat mag eine Rolle bei der Inszenierung der Lieder gespielt haben, denn sie strömen eine verinnerlichte Zufriedenheit aus, die nur Personen entwickeln können, die ihr Leben in allen Ausprägungen akzeptieren.
Lässigkeit und Raffinesse machen „Brighter Than The Blues“ aus. Dieser einnehmende Track lässt den Hörer alles um sich herum vergessen. Ländlicher Mountain-Folk verbindet sich mit Laurel Canyon Folk-Rock, wie ihn Crosby Stills & Nash oder James Taylor Ende der Sechzigerjahre gespielt haben. An anderer Stelle werden die Stilmittel des Folktronic (Folk + Electronic) umgedreht, indem die hypnotische Begleitung von akustischen anstatt von elektronischen Instrumenten übernommen wird („Over And Even“).
Ihre lyrischen Fähigkeiten, die wahrscheinlich am englischen Storyteller-Folk geschult sind, zeigen sich am poetischen Auskleiden von Themen, die andernorts tabu sind. In „Not Over By Half“ findet Joan tröstliche Worte für den Augenblick des Todes. Auch wenn nur Gesang und akustische Gitarren erklingen, kommt aufgrund der Anmut der traurigen Melodien keine Langeweile auf („Wine And Honey”). Wie dicht allerdings Ergriffenheit und Schmalz zusammenliegen, zeigt das kurze Intermezzo „Lure And Line“, das in nebligen New-Age-Gefilden mit klebriger Schönsingerei versinkt. Bei „Subtle Love“ wird noch mal der Instinkt für betörende, bodenständige Töne vermisst, denn der Track offenbart sich stattdessen als biedere Ausprägung des Folk.
Ansonsten ist Joan Shelley eine zuverlässige Bewahrerin des Echten und Schönen in einem Genre, das sich durch den erwähnten Cohen-Brüder-Film wieder im Aufwind befindet. Mit ihrem neuen Werk hat sich die Musikerin, die rund um Kentucky in einem Netzwerk von Gleichgesinnten tätig ist (z.B. in der traditionellen Band Maiden Radio), in der Oberliga etabliert.
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