Charlene Soraia - Where`s My Tribe (2019)

Zurück zu den Wurzeln: Charlene Soraia zeigt sich mit "Where`s My Tribe" karg, unmittelbar und verletzlich.
Wer Charlene Soraia zuerst mit ihrem dritten Album „Where`s My Tribe“ kennen lernt, kommt wahrscheinlich nicht unbedingt auf den Gedanken, dass die Musikerin ursprünglich von David Bowie, den Beatles, Progressive-Rock-Größen wie Pink Floyd oder King Crimson sowie diversen Jazz-Gitarristen beeinflusst wurde. Denn die Kompositionen wirken überwiegend brüchig und verhalten. Außerdem wurden sie sparsam, unter Einbeziehung von Effekten, die den Raum als Klangkörper berücksichtigen, verwirklicht.
Bereits mit fünf Jahren brachte sich Charlene selbst das Gitarrespielen bei und trat mit sechzehn als Solo-Künstlerin bei Open-Mic-Nächten auf. In der Zeit von 2006 bis 2009 nahm sie dann mehrere Solo-EPs auf. Den kommerziellen Durchbruch erlangte sie 2011 mit „Wherever You Will Go“, einer Cover-Version eines Songs der Band The Calling. Das Lied wurde für eine Tee-Werbung eingesetzt und erreichte Platz drei der britischen Single-Charts. Die Alben „Moonchild“ (2011) und „Love Is The Law“ (2015) folgten.

Wer die Musikerin nach den ersten Takten von „Where`s My Tribe“ aber als gewöhnliche Folk-Frau abstempelt und sich nicht weiter interessiert zeigt, der verpasst eine begabte Künstlerin, die bisher vorwiegend durch jazzigen Folk-Pop aufgefallen war. Es lohnt sich aber auch, die Musikerin in dieser intimen Umgebung zu erleben, die sie zurück zu ihren Anfängen als Solo-Künstlerin bringt. Charlene legt jedenfalls jede Menge Einsamkeit, Enttäuschung, Aufbegehren und Sinnlichkeit in ihre gefühlsstarken Songs. Dadurch, dass sie die Lieder alleine zur Gitarre in ihrem Wohnzimmer aufgenommen hat, bleiben nur wenige Variationsmöglichkeiten, um Abwechslung zu erreichen: Ein paar Overdubs, etwas Hall und Echo sowie ein paar rhythmische und perkussive Elemente auf der Gitarre. Um den Ausdruck noch zu intensivieren, spielt die junge Frau noch ihre variationsreiche Stimme aus und trägt ein paar variierende Kompositionen bei.
Zärtlichkeit, Träumereien und aufflackerndes Aufbegehren, das sich vor allem durch peitschend-klatschende Akkord-Salven bemerkbar macht, dominieren das Stimmungsbild von „Where's My Tribe“. „Tragic Youth“ fällt durch monotones Picking und deutlich hörbares Gleiten der Finger über die Saiten auf. Das Lied erhält dadurch ein nervöses, unruhiges Temperament, das auch von der sachlich-überlegten und jubilierend-erregten Stimme nicht überlagert werden kann. Der Hall, mit dem der Gesang und die Gitarren-Töne unterlegt werden, lässt den Aufnahmeraum bei „Temptation“ groß und leer erscheinen. Dadurch gewinnt die Ballade noch an Verzweiflung und Trauer. „Beautiful People“ setzt diese Atmosphäre mit etwas weniger Hall und etwas weniger Drama im Prinzip fort.
„Now You Are With Her“ ist ein ungeschliffener Edelstein. Das Stück wirkt selbst in dieser kargen Fassung sehr berührend, wird facettenreich gesungen und verfügt über eine bezaubernde Melodie. Psychedelische E-Gitarren malen für „The Journey“ glitzernd-flirrende Klang-Figuren, bevor nach beinahe drei Minuten der sphärisch-flüsternde Gesang einsetzt. Rhythmisch bewegt sich „Likely To Kill“ zwischen Bossa Nova und Folk-Rock und zeigt abenteuerliche Tempo- und Gesangs-Wechsel. „Far Beyond The High Street“ fusioniert anglo-amerikanischen Folk mit Anlehnungen an asiatische Klänge. Dieser Eindruck wird beim kurzen, instrumentalen, exotisch angehauchten „Harms“ noch verstärkt. Das karibische Rhythmen ausprobierende, verschachtelte „Saboteur Tiger“ lässt dann im Ansatz an Laura Marling denken, die auch sonst stimmlich wie konzeptionell als Inspiration eine Rolle gespielt haben mag.
Wirkt das Werk zunächst noch etwas spröde und unzugänglich, so offenbaren sich mit jedem Hören allmählich mehr interessante Facetten. Die Lieder wollen erobert werden, benötigen allerdings etwas Geduld, um ihre emotionale Tiefe zu entfalten. Charlene Soraia beweist mit der neuen Platte Mut. Sie verlässt zu Zwecken der Selbstfindung ihre Komfortzone und ist ganz bei sich selbst: Fokussiert und verletzlich, kritisch und ehrlich lässt sie die Zuhörer ganz nah an sich ran. Die 30jährige Frau begibt sich auf das Abenteuer, ihre individuelle Linie zu manifestieren und auszubauen: Mit dem Folk-Jazz „The Journey“ deutet die Londonerin eine dem rauschhaften Sound verfallene Ästhetik an und bei „Likely To Kill“ legt sie die Grundlage für einen alternativen gesanglichen Ausdruck. „Now You Are With Her“ zeigt Charlene Soraia Santaniello Jones - wie die Sängerin offiziell heißt - als äußerst versierte Komponistin und „Far Beyond The High Street“ als stilvolle Arrangeurin. De Platte lebt von einer lebendigen Kreativität, die sie interessant macht und auf weitere spannende Ideen hoffen lässt.
Und hier ist das Titelstück in Bild und Ton:

Erstveröffentlichung dieser RezensionCharlene Soraia - Where`s My Tribe

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Waiting For Louise - Rain Meditation

Jahresbestenliste 2023

Lesestoff: Pop steht Kopf