Over The Rhine - Love & Revelation (2019)

Wenn Nachdenklichkeit die Seele umwölkt, kann daraus durchaus etwas Wahrhaftiges und Schönes erblühen, wie bei „Love & Revelation“ von Over The Rhine.

Was macht den Reiz moderner Folk-Künstler aus? Im Gegensatz zu ihren Vorfahren sind sie heute nicht nur gute Geschichtenerzähler, sondern sorgen auch musikalisch für spannende, besondere Stimmungen und Sounds. Das trifft auch auf Over The Rhine zu, die sich nach einem ehemaligen Arbeiterviertel in Cincinnati im US-Bundesstaat Ohio, das von deutschen Einwanderern Mitte des 19. Jahrhunderts gegründet wurde, benannt haben. Die Formation wurde vor 30 Jahren in Ohio gegründet. Als fester Bestandteil haben sich Linford Detweiler (Gitarre, Piano) und Karin Bergquist (Gesang, Gitarre) durchgesetzt, die ihre Musik gerne als post-nuklearen, pseudo-alternativen, folkloristischen Art-Pop bezeichnen. Das zeigt, dass die Einordnung in den Folk-Zirkel stilistisch nicht eindeutig sein soll.

Mehr als vier Jahre nach „Blood Oranges In The Snow“ aus 2014 erscheinen jetzt elf neue, von dem Musiker–Ehepaar selbst produzierte Songs. Die sensibel unterstützende, hochklassig besetzte Begleit-Band besteht aus: Jay Bellerose (Joe Henry, Aimee Mann), (Schlagzeug, Percussion); Jennifer Condos (Ray LaMontagne, Tito & Tarantula) am Bass; Greg Leisz (John Mayer, Joni Mitchell), der auf alles was Saiten hat, losgelassen werden kann; Keyboarder Patrick Warren (Fiona Apple, The Wallflowers und dem Cut In The Hill Gang-Gitarristen Bradley Meinerding. Die Formation nimmt sich bei „Los Lunas“ gefühlt alle Zeit der Welt, um den Song majestätisch, raumfüllend, transparent und bewegend aufzubauen. Karin ist dabei die wissende, feinnervige Regisseurin, die mit ihrer bedeutsamen Stimme die Luft tiefgründig vibrieren lässt. Dieser Country-Folk ist unglaublich entspannt, edel verarbeitet und hinreißend emotionsgeladen. Hier offenbart sich meisterhafte Kompositions- und Interpretationskunst!

Ein Gefühl von erdrückender Traurigkeit umweht das hoffnungslos klingende „Given Road“, das von weinend-schwermütigen Instrumenteneinsätzen getragen wird. In der Tradition von Emmylou Harris und Gram Parsons tragen Karin und Linfort den von schwelgenden Geigen und einer mitfühlenden Gitarre umsäumten Track „Let You Down“ schmachtend und inbrünstig vor. „Broken Angels“ trägt die soeben entstandene, getragene Stimmung weiter und zeigt sich sogar noch eine Spur versunkener und verzweifelter als der Vorgänger. Der Track stützt sich weitgehend auf die intime Zwiesprache der Instrumente untereinander, für die Karins erschütternd berührender Gesang das Bindemittel darstellt.

Die Gospel-Schwingungen des Songs „Love & Revelation“ verleihen dem grundsätzlich zurückhaltenden Stück Stärke und Leben.

„Making Pictures“ produziert sehnsuchtsvolle Momente, die sowohl von Klarheit und Transparenz, wie auch von Melancholie geprägt sind. „Betting On The Muse“ besinnt sich auf durchsichtige, einfache Abläufe und stellt weich fließende Muster in den Vordergrund. Ländlich-gemächliche Bluegrass-Klänge bilden dann die Grundlage des feingliedrigen „Leavin`Days“.

Geschmeidige Pop-Harmonien verhelfen dem Track „Rocking Chair“ zu einer entspannten Stimmung und der fromme Wunsch „May God Love You (Like You`ve Never Been Loved)“ mündet in eine sentimentale Ballade. Beim Instrumentalstück „An American In Belfast“ können die eingesetzten Musiker ihre Sensibilität und ihre Kunst, aus Noten Tränen fließen zu lassen, demonstrieren.

Das fünfzehnte Over The Rhine-Album besteht beinahe komplett aus behutsamer, ruhiger Musik und wirkt dadurch wie ein ästhetisches Gesamtkunstwerk. Dazu trägt auch die Gestaltung des mehrfach klappbaren CD-Digi-Packs mit seinen farbreduzierten Illustrationen und das transparente, saubere Klangbild der leisen, zurückhaltenden Lieder bei. Genau genommen handelt es sich um die Umsetzung einer Weltanschauung im Umgang mit Tönen: Sie sollten nicht aufdringlich präsentiert werden, sich gefühlvoll anschmiegen und klar sowie kunstvoll veredelt ans Ohr gelangen.

Wenn sich Schlichtheit mit technischer Brillanz und gefühlsduseliger Schönheit in Harmonie vereinen, dann bedeutet das für manche Hörer das höchste Maß der Gefühle an musikalischer Ausdrucksmöglichkeit. An der Verwirklichung dieses Zieles arbeitet Over The Rhine anscheinend. Die Musiker müssen jedoch aufpassen, dass sie dabei nicht in Wohlklang erstarren. Menschen, die Fans von Rosanne Cash, Mary Chapin-Carpenter, Kate Wolf oder den Cowboy Junkies sind, werden wahrscheinlich auch großen Gefallen an dieser Platte haben. Andere, die Schwung, Fröhlichkeit und Rhythmusbetonung suchen, wird die Spielweise wahrscheinlich auf Dauer zu beschaulich, gemächlich und behaglich sein.

Erstveröffentlichung dieser RezensionOver The Rhine - Love & Revelation

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