Verborgene Plattenschätze: Michael Dinner - The Great Pretender (1974) und Tom Thumb The Dreamer (1976)
MICHAEL DINNER hat alle Songs selbst geschrieben, er
singt mit erhabener, klarer Stimme und spielt akustische Gitarre. Er schafft
den schwierigen Spagat zwischen Eingängigkeit und anspruchsvollem Songwriting. Man
kann sich der Kraft seiner Lieder kaum entziehen. Der Opener THE GREAT
PRETENDER wird durch eine hymnische Steel-Guitar eröffnet und schmeichelt sich
mit einer einnehmenden Melodie sofort ein. Musikalische Glanzlichter setzt auch
Bob Warford an der eleganten elektrischen String-Bender-Gitarre.
Stilistische
Offenheit demonstriert JAMAICA: Michael Dinner verbindet hier Laid-Back-Country
mit Karibik-Flair. Steel Drums - also ehemalige Ölfässer - sorgen für einen
sonnigen, entspannten Klang, der durch angedeutete Reggae-Rhythmik noch
verstärkt wird. Auch bei YELLOW ROSE EXPRESS geht die Sonne auf. Der Song hat
eine unglaublich positive Ausstrahlung. Intelligent gesetzte Tempowechsel und atemberaubende
Einlagen von Bob Warford an der E-Gitarre und Ed Black an der Steel-Guitar
vervollständigen diesen Referenz-Song des Country-Rock. Bei SUNDAY MORNING FOOL
wechselt die Stimmung zu Moll. Aber auch diese Ballade hat etwas Tröstliches,
der Interpret lässt sich nicht vom Schmerz erdrücken. Eigentlich ist der Song
eine Steilvorlage für das Repertoire von WILLIE NELSON oder KRIS KRISTOFFERSON.
LAST DANCE IN SALINAS hat eine hinreißende Melodie. Trotz dass der Song im
Mid-Tempo-Bereich angesetzt ist, vermittelt er eine Gelassenheit und Fröhlichkeit,
die man sonst eigentlich nur bei weitaus schneller gespielten Liedern
vorfindet. Michael Dinner wird unter anderem vom großen Al Perkins an der seufzenden
Steel-Guitar und von David Lindley - der nicht nur Jackson Browne songdienlich
begleiten kann - an der beschwingten Fiddle feinsinnig unterstützt. Damit endet
die spektakuläre, umwerfende A-Seite der LP.
Mit TATTOOED MAN FROM CHELSEA zeigt Michael eine
rockigere Variante. Diese passt aber nicht so wirklich ins Bild und wirkt eher
wie ein Fremdkörper. Bei den restlichen Titeln des Albums kommt MICHAEL DINNER
wieder in ruhiges Fahrwasser: WOMAN OF ARAN, PENTACOTT LANE,
ICARUS und TEXAS KNIGHT
sind ausgeglichene, folkige, relativ unspektakuläre, aber schlüssige
Kompositionen. Sie zeigen nicht den grenzenlosen Optimismus der A-Seite, der
auch an dunkleren Stellen dominierte, sondern einen nachdenklichen Poeten, der
nicht immer ein Licht am Ende des Tunnels erkennt. Den thematischen Tiefpunkt
findet man in ICARUS, wo quasi ein Abschiedsbrief zitiert wird. Zwar beinhaltet
TEXAS KNIGHT die Aufforderung, sich nicht unterkriegen zu lassen, wenn es das
Leben mal nicht so gut mit einem meint, aber die Musik transportiert kein
Aufbäumen gegen das Schicksal, sondern wirkt resignierend.
ICARUS und TEXAS KNIGHT
MICHAEL DINNER hat mit THE GREAT PRETENDER sehr
überzeugend zwei Gesichter des Lebens dargestellt: Seite A steht für
Lebensfreude, Gelassenheit und Mut, Seite B überwiegend für Melancholie,
Frustration und Trauer.
2 Jahre später brachte er mit TOM THUMB THE DREAMER quasi
seinen Schwanengesang heraus. Die Musiker wurden gegenüber dem Debut komplett
ausgewechselt, die kompositorische Güte ist hier zwar ähnlich, aber die
Umsetzung ist anders. Die lebensbejahende Leichtigkeit und das Selbstvertrauen
sowie die sonnige Gelassenheit ist auch vorhanden, wird aber reservierter und
berechenbarer umgesetzt. Die Arrangements sind ausgefeilter, kühler und üppiger
geworden. Man findet keine jubilierende Steel-Guitar mehr und der
Country-Einfluss wurde zurückgedrängt. Keyboards übernehmen einen größeren
Anteil im Klangbild. Die Gitarren klingen stromlinienförmig und nicht mehr
abenteuerlich. MICHAEL DINNER ist distanzierter geworden, er ist hier der
Betrachter aus der Ferne, nicht mehr der unmittelbar Beteiligte an den
Geschichten, die er erzählt. Seine Rolle hat sich vom hoffnungsvollen Suchenden
zum ernüchterten Angepassten gewandelt.
Erstveröffentlichung dieser Rezension: Fanzine ROADTRACKS #36
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