Verborgene Plattenschätze: Michael Dinner - The Great Pretender (1974) und Tom Thumb The Dreamer (1976)

Die große Zeit des kalifornischen Country Rock neigte sich 1974 schon dem Ende zu, als MICHAEL DINNER nochmal zu einem großen Wurf ausholte. Seine LP THE GREAT PRETENDER fasst alle Tugenden zusammen, die in vielen großartigen Alben der endsechziger- und frühsiebziger Jahre zu finden waren: Musikalische Aufbruchsstimmung durch Verbindung von Tradition und Moderne, die Vermittlung von Freiheit und Unabhängigkeit in Text und Sound und die Verbindung von Harmonie und Kreativität bei der musikalischen Umsetzung. All das gipfelte in diesem heute fast völlig vergessenen Meisterwerk. Zumindest ist dieser Songzyklus für Menschen, die mit dem Debut der EAGLES, den frühen JACKSON BROWNE- und JIMMY BUFFETT-Platten, den FLYING BURRITO BROTHERS und den NEW RIDERS OF THE PURPLE SAGE groß geworden sind, ein wichtiger Meilenstein.

MICHAEL DINNER hat alle Songs selbst geschrieben, er singt mit erhabener, klarer Stimme und spielt akustische Gitarre. Er schafft den schwierigen Spagat zwischen Eingängigkeit und anspruchsvollem Songwriting. Man kann sich der Kraft seiner Lieder kaum entziehen. Der Opener THE GREAT PRETENDER wird durch eine hymnische Steel-Guitar eröffnet und schmeichelt sich mit einer einnehmenden Melodie sofort ein. Musikalische Glanzlichter setzt auch Bob Warford an der eleganten elektrischen String-Bender-Gitarre. 
Stilistische Offenheit demonstriert JAMAICA: Michael Dinner verbindet hier Laid-Back-Country mit Karibik-Flair. Steel Drums - also ehemalige Ölfässer - sorgen für einen sonnigen, entspannten Klang, der durch angedeutete Reggae-Rhythmik noch verstärkt wird. Auch bei YELLOW ROSE EXPRESS geht die Sonne auf. Der Song hat eine unglaublich positive Ausstrahlung. Intelligent gesetzte Tempowechsel und atemberaubende Einlagen von Bob Warford an der E-Gitarre und Ed Black an der Steel-Guitar vervollständigen diesen Referenz-Song des Country-Rock. Bei SUNDAY MORNING FOOL wechselt die Stimmung zu Moll. Aber auch diese Ballade hat etwas Tröstliches, der Interpret lässt sich nicht vom Schmerz erdrücken. Eigentlich ist der Song eine Steilvorlage für das Repertoire von WILLIE NELSON oder KRIS KRISTOFFERSON. 
LAST DANCE IN SALINAS hat eine hinreißende Melodie. Trotz dass der Song im Mid-Tempo-Bereich angesetzt ist, vermittelt er eine Gelassenheit und Fröhlichkeit, die man sonst eigentlich nur bei weitaus schneller gespielten Liedern vorfindet. Michael Dinner wird unter anderem vom großen Al Perkins an der seufzenden Steel-Guitar und von David Lindley - der nicht nur Jackson Browne songdienlich begleiten kann - an der beschwingten Fiddle feinsinnig unterstützt. Damit endet die spektakuläre, umwerfende A-Seite der LP.

Mit TATTOOED MAN FROM CHELSEA zeigt Michael eine rockigere Variante. Diese passt aber nicht so wirklich ins Bild und wirkt eher wie ein Fremdkörper. Bei den restlichen Titeln des Albums kommt MICHAEL DINNER wieder in ruhiges Fahrwasser: WOMAN OF ARAN, PENTACOTT LANE, 

ICARUS und TEXAS KNIGHT 
sind ausgeglichene, folkige, relativ unspektakuläre, aber schlüssige Kompositionen. Sie zeigen nicht den grenzenlosen Optimismus der A-Seite, der auch an dunkleren Stellen dominierte, sondern einen nachdenklichen Poeten, der nicht immer ein Licht am Ende des Tunnels erkennt. Den thematischen Tiefpunkt findet man in ICARUS, wo quasi ein Abschiedsbrief zitiert wird. Zwar beinhaltet TEXAS KNIGHT die Aufforderung, sich nicht unterkriegen zu lassen, wenn es das Leben mal nicht so gut mit einem meint, aber die Musik transportiert kein Aufbäumen gegen das Schicksal, sondern wirkt resignierend.

MICHAEL DINNER hat mit THE GREAT PRETENDER sehr überzeugend zwei Gesichter des Lebens dargestellt: Seite A steht für Lebensfreude, Gelassenheit und Mut, Seite B überwiegend für Melancholie, Frustration und Trauer.
2 Jahre später brachte er mit TOM THUMB THE DREAMER quasi seinen Schwanengesang heraus. Die Musiker wurden gegenüber dem Debut komplett ausgewechselt, die kompositorische Güte ist hier zwar ähnlich, aber die Umsetzung ist anders. Die lebensbejahende Leichtigkeit und das Selbstvertrauen sowie die sonnige Gelassenheit ist auch vorhanden, wird aber reservierter und berechenbarer umgesetzt. Die Arrangements sind ausgefeilter, kühler und üppiger geworden. Man findet keine jubilierende Steel-Guitar mehr und der Country-Einfluss wurde zurückgedrängt. Keyboards übernehmen einen größeren Anteil im Klangbild. Die Gitarren klingen stromlinienförmig und nicht mehr abenteuerlich. MICHAEL DINNER ist distanzierter geworden, er ist hier der Betrachter aus der Ferne, nicht mehr der unmittelbar Beteiligte an den Geschichten, die er erzählt. Seine Rolle hat sich vom hoffnungsvollen Suchenden zum ernüchterten Angepassten gewandelt. 

Vielleicht hat er sich deshalb auch nach TOM THUMB THE DREAMER aus dem Musikgeschäft zurückgezogen und ist ein erfolgreicher TV-Produzent geworden. Unter anderem war er für die Serien CHICAGO HOPE und THE WONDER YEARS tätig.

Leider sind seine beiden LP`s bisher noch nicht auf CD wiederveröffentlicht worden, dabei macht es Spaß und Sinn, sie als Doppelpack zu hören und zu vergleichen.

Erstveröffentlichung dieser Rezension: Fanzine ROADTRACKS #36

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