Verborgene Plattenschätze: The Grays - Ro Sham Bo (1994)

Ein Weg, ein Ziel: Vier Individualisten, die am Power-Pop geschult sind, suchten als Gemeinschaft nach der optimalen Umsetzung ihrer Songs.

Im Jahr 1993 war die alternative Rock-Szene unter anderem von College-Rock und Grunge geprägt. Power-Pop Zutaten sorgten dabei für das Gleitmittel und den nötigen Optimismus, um Eingängigkeit zu erzeugen. Diesen Effekt machten sich z.B. Bands wie R.E.M., Weezer, The Posies, Redd Kross, Fountains Of Wayne, Jellyfish, Urge Overkill, The Lemonheads, Cracker oder Sugar zu Nutze und feierten damit Erfolge. Deshalb suchten die Talent-Scouts in dieser Zeit gezielt nach einem Sound, der Härte, melodische Attraktivität, Dynamikabstufungen und raffinierte Arrangements miteinander verknüpft. Genau diese Qualitäten brachten die Musiker Jason Falkner, Jon Brion, Buddy Judge und Dan McCarroll mit, die eigentlich eher ihr eigenes Ding machen und nicht als Gruppe zusammen arbeiten wollten. Aber Jon Brion lud seine späteren Band-Kollegen zu einer lockeren Jam-Session ein, die die Aufmerksamkeit eines einflussreichen Label-Managers erregte. So kam es 1993 in Los Angeles zur Gründung von The Grays, die sofort einen Plattenvertrag erhielten. Die Musiker hatten sich vorgenommen, als Kollektiv ohne richtigen Anführer aufzutreten. Sie wollten versuchen, eine demokratische Arbeitsteilung umzusetzen, bei der die Instrumente untereinander getauscht wurden und die Beiträge der jeweils anderen bestmöglich unterstützt werden sollten.
Am 22. Februar 1994 kam dann das Album „Ro Sham Bo“ (was eine andere Bezeichnung für das Spiel „Stein, Papier, Schere“ ist) raus. Es wird mit der Single „Very Best Years“ eröffnet, zu der auch ein Video produziert wurde:
Jason Falkner, der seine Laufbahn 1988 bei der psychedelischen Paisley Underground-Band Three O' Clock begann und diese dann bei den Power-Poppern von Jellyfish fortsetzte, steuerte dieses Lied bei. Falkner ist für seine ausgeklügelten, mit Hook-Lines reichlich gesegneten Songs bekannt. Auch bei „Very Best Years“ zieht er alle Register seines Könnens, um die Komposition straff, verführerisch und raffiniert klingen zu lassen. Das Lied schleicht sich mit sattem Bass und mehreren West Coast-Sound-Gitarrenspuren abwartend an. Das Tempo wird dann noch kurz weiter gedrosselt, bevor mit dem Einsatz des souverän-selbstbewussten Gesanges druckvoll Stellung bezogen wird. Nach dieser Phase biegt die Melodieführung in eine Pop-Landschaft ab, die Harmonie und hymnische Abläufe in den Vordergrund stellt. Es passiert sehr viel in diesen etwa dreieinhalb Minuten. Das Feuerwerk der Ideen wird aber so kanalisiert, dass unterm Strich immer noch ein astreiner, anspruchsvoller Ohrwurm dabei raus kommt. 

„Everybody`s World“ hat der Songwriter, Gitarrist und Sänger Buddy Judge beigesteuert, der 1988 The Buddy System gründete und dessen skurriles Solo-Werk „Profiles In Clownhenge“, bei dem die Tuba eine führende Rolle übernimmt, heute zu einer gesuchten Rarität gehört. Der Groove des Tracks wird sachte aufgebaut und mündet in einen exotischen Pop-Rocker, der manchmal stark an Elvis Costello und die psychedelischen Beatles erinnert. Der Singer-Songwriter und Produzent Jon Brion war Mitglied von Til Tuesday, der Band von Aimee Mann und hat mit Jason Falkner bei Jellyfish gespielt. Später arbeitete er auch alleine und betreute unter anderem wieder die Musik von Aimee Mann, mit der übrigens alle The Grays-Mitglieder zusammen gearbeitet haben. „Mit Same Thing“ reiht er sich als Sparringspartner in den knackigen Roots-Rock und verwinkelten Pop von Jason Falkner ein und steht ihm dabei an Einfallsreichtum in Nichts nach.
L-R: Jason Falkner, Jon Brion, Dan McCarroll, Buddy Judge

„Friend Of Mine“ beweist sich als der zweite heimliche Hit des Albums aus der Feder von Jason Falkner. Dieses als kraftvolle Ballade angelegte Stück wird immer wieder von neuen Gitarrenspuren befeuert, gleitet aber ansonsten majestätisch dahin. Die fünf Minuten vergehen wie im Fluge. Das ist die hohe Kunst des Adult-Pop-Songwriting, wie sie unter anderem auch von Brian Protheroe oder Duncan Sheik beherrscht wird. „Is It Now Yet“ ist eine Gemeinschaftsarbeit von Buddy Judge und dem Session-Drummer Dan McCarroll, der nach seiner musikalischen Laufbahn Präsident von Warner Brothers Music wurde und in diesem Jahr zu Amazon Music wechselte. Der Song beginnt schleppend und Melancholie verbreitet sich wie ein mysteriöser Nebel. Die düstere Stimmung bleibt erhalten, obwohl im Verlauf noch aggressive Schärfe einfließt. Mit einem langen Fade-Out wird der Track dann monoton fließend zu Ende gebracht. 

Für „Oh Well Maybe“ zeigt sich Falkner als relativ gradliniger Rocker, ohne dabei jedoch den melodischen und verspielten Aspekt seiner Kunst zu vernachlässigen. Das Ganze kann auch als Collage aus Beatles (ca. „Let It Be“) und Rolling Stones (ca. „Exile On Main St.“) verstanden werden. Dass die Rolling Stones einen gewissen Einfluss auf den Sound hatten, zeigt sich auch in der Wahl der B-Seite von „Very Best Years“: Hierzu wurde „Complicated“ von „Between The Buttons“ (1967) ausgewählt. „Nothing Between Us“ stammt von Jon Brion und ist eine herzzerreißende Ballade. Auch wenn der teilweise benutze Falsett-Gesang knapp am Kitsch vorbei schlittert. „Both Belong“ von Jason Falkner atmet dann den filigranen Alternative-Folk-Rock-Geist solcher Big Star-Songs wie „Watch The Sunrise“, „My Life Is Right“ oder „The Ballad Of El Goodo“. 

„Nothing“ täuscht zunächst vor, eine Piano-Ballade zu werden. Der Track von Buddy Judge mutiert aber schnell zu einer relativ agilen Nummer, die jedoch vom schleichenden Gesang oft ausgebremst wird. Brions „Not Long For This World“ präsentiert zeitlosen, energiereichen, aufwühlenden Power-Pop, wie er auch z.B. von Tommy Keene oft und gerne gespielt wurde. Jason Falkners „Spooky“ beginnt bekümmert-resignierend, schwingt sich aber zwischenzeitlich auch in hoffnungsvolle wie auch wütende Gefilde auf, während „All You Wanted“ von Buddy Judge die ergreifende Wirkung von hymnischen, getragenen Melodien beschwört. 

Mit einer Laufzeit von etwa sechseinhalb Minuten ist „No One Can Hurt Me“ von Jon Brion der längste Track des Werkes. Diese epische Ballade wird von hypnotischen, dringlichen Schlagzeug-Spuren, die an „Spoon“ von Can erinnern, begleitet. Die relativ gleichmäßige, hervorstechende Taktgebung sorgt für eine Belebung dieses betrübten Tracks.
Die unwiderstehliche Mischung aus Power- und Psychedelic-Pop, gepaart mit straffem, melodischem College-Rock vereint etliche Kenntnisse, die The Grays von ihren Vorbildern erworben haben. Dazu gehören die rauschhaft verspielten „Magical Mystery Tour“-Beatles oder Zitate von „Odyssey And Oracle“, dem barocken Pop-Meisterwerk der Zombies, Dann auch noch die Big Star-Coolness und der jugendlich-überschwängliche Power-Pop der dB's. Diese Mischung passte eigentlich genau in die Zeit, fand aber kaum Käufer, obwohl die Platte von den Kritikern mit Lob überschüttet wurde. 

Der Zahn der Zeit konnte der Musik bisher gar nichts anhaben und so staunt man auch heute noch über die vielfältigen Drehungen und Wendungen, die eingebaut wurden, ohne dass die Titel dabei ihre Durchschlagskraft verloren haben. Im Kern ist „Ro Sham Bo“ ein Gitarrenalbum. Kein Wunder bei drei Gitarristen in der Band. Es werden häufig einige Gitarrenspuren übereinander oder nebeneinander gelegt, die den Songs Halt, Elan und Abwechslung verleihen. Die Musiker zeigen sich als wahre Team-Player und schaffen gediegene Pop-Kunstwerke, die vor Eleganz, Kraft und Raffinesse strotzen und von Jack Joseph Puig einfühlsam betreut wurden. Puig war auch schon der Produzent von Jellyfish und schätzte dort besonders die Fähigkeiten von Jason Falkner. Da die anderen Bandmitglieder der Meinung waren, Jack Joseph Puig würde Jason Falkner bei der Songauswahl für „Ro Sham Bo“ bevorzugen, kam es zu Spannungen, die auch zum Bruch führten. 

Schon ein Jahr nach der Gründung gingen die Musiker 1994 schon wieder getrennte Wege: Jason Falkner brachte noch zwei großartige Solo-Alben raus („Author Unknown“, 1996) und „Can You Still Feel?“, 1999), die leider ziemlich untergingen. Seine Dienste wurden aber gerne von anderen Musikern in Anspruch genommen, wie z.B. von Paul McCartney („Chaos And Creation In The Backyard“, 2005), Air, Beck („Sea Change“, 2002), Brendan Benson, Travis und Lisa Loeb. Jon Brion hat sich zum Multitalent entwickelt und ist als Produzent, Arrangeur, Studiomusiker, Komponist und Schauspieler anerkannt. Seine Filmmusik für „Magnolia“ erhielt sogar eine Grammy-Nominierung. Buddy Judge ist heute ebenso wie Dan McCarroll als Manager tätig. Er ist derzeit für die Entwicklung des HomePod-Lautsprechers von Apple Music mit verantwortlich.

Erstveröffentlichung dieser Rezension: Fanzine ROADTRACKS #53

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