The Flesh Eaters - I Used To Be Pretty (2018)

Die erneute Rückkehr der semi-legendären Punk-Band The Flesh Eaters aus Los Angeles ist mit "I Used To Be Pretty" erstaunlich facettenreich, frisch und musikalisch ausgefeilt geraten.

In der Zeit zwischen dem US-Punk Mitte der 1970er Jahre und dem Grunge Anfang der 1990er Jahre herrschte in den USA kein Vakuum hinsichtlich der Entwicklung der Rock-Musik. Ganz im Gegenteil. Diverse lokale Szenen blühten auf und brachten einflussreiche Trends und Bands hervor. So gab es den College-Rock, der in Athens, Georgia, unter anderem R.E.M. hervor brachte. In Minneapolis verliehen Hüsker Dü und The Replacements dem Punk neuen Schwung und Hoboken in New Jersey entwickelte sich mit Bands wie The dB`s oder The Bongos zu einer neuen Power-Pop-Hochburg. Im stetig brodelnden New York feierte unterdessen der Noise-Rock mit Sonic Youth und Swans Erfolge.
Los Angeles war schon seit den 1960er Jahren für eine pulsierende, sich ständig erneuernde Musiklandschaft bekannt. Dort entstand damals ein kreativer Psychedelic-Rock, die mit Bands wie The Doors und Love Maßstäbe setzte und in den 1980er Jahren mit dem Paisley Underground um The Three O`Clock und Rain Parade wieder auflebte. Auch der Roots-Rock, der sich zum Americana-Sound weiterentwickelte, brachte mit den in Los Angeles wirkenden Bands The Dream Syndicate, The Long Ryders und Green On Red wichtige Wegbereiter hervor. Ein Post-Punk-Underground-Trend, der das Ungestüme des Punkrock mit dem rauen, bodenständigen Groove des Blues und der Sehnsucht des Country vereinbaren wollte, kam auch Anfang der 1980er Jahre in der Stadt der Engel richtig in Fahrt.
Mittendrin und maßgeblich beeinflussend war dabei der Poet, Schauspieler, Hardcore-Fan von Horror- und Film-Noir-Material, Lehrer und unkonventionelle Sänger Chris Desjardins, der sich fortan Chris D. nannte, weil sowieso niemand seinen Namen richtig aussprechen konnte. Chris trat bereits 1977 als Chef von The Flesh Eaters in Erscheinung, deren wüster, derber und grobschlächtiger Sound genauso provokativ wie manche seiner makabren Texte ausfiel. Bei den Songs wurde neben Originalität und Schärfe auch schon mal auf eine gute Melodie Wert gelegt, die Chris mit seiner rotzig nörgelnden Stimmlage aufsässig vertonte. Gesanglich inspirierten ihn dabei sowohl Jim Morrison wie auch Captain Beefheart sowie der junge Rod Stewart. Daneben auch Blues-Musiker wie Howlin` Wolf oder John Lee Hooker.
1980 kam dann mit „No Question Asked“ das erste Album der Flesh Eaters raus. Die Verbindung zum Slash-Fanzine-Autor Jeffrey Lee Pierce brachte Chris D. dann noch zusätzlich einen Job als Produzent von „Fire Of Love“ des Gun Club ein. Weitere derartige Aktivitäten für The Dream Syndicate, The Misfits und Green On Red folgten. Desjardins hatte stets ein Händchen dafür, erstklassige Musiker um sich herum zu versammeln. So waren bei seinen eigenen Plattenaufnahmen unter anderem Musiker von X, The Blasters, Los Lobos und Wall Voodoo beteiligt. Allerdings verstand es Mr. Desjardins nicht, das jeweilige Gruppengefüge lange zusammenzuhalten. Er galt in sozialer Hinsicht nämlich eher als schwierig.
Ausgerechnet der eintönige Song „Divine Horsemen“ vom 1981er Album „A Minute To Pray A Second To Die“ wurde nach dem 1984er Split der Flesh Eaters zum Namensgeber für das folgende Projekt des kreativen Wirrkopfes Chris D., in dem auch seine Partnerin Julie Christensen entscheidend mitwirkte. Die bodenständige, kraftvolle Sängerin bescherte der Cowpunk-Band eine exklusive Singer-Songwriter Note mit Hang zum Roots-Rock und zu Country-Balladen. Die Kompositionen der Divine Horsemen waren gradliniger als die Stücke der Flesh Eaters und konnten vor allem auf „Devil`s River“ (1986) durch herzhafte Rocker und sehnsüchtige Balladen überzeugen. Die Gruppe war jedoch kurzlebig und brach 1987 schon wieder auseinander. Drei Jahre später lebten The Flesh Eaters wieder auf und brachten bis 2004 insgesamt acht Studio-Platten raus.

Jetzt gibt es also fünfzehn Jahre nach dem letzten Studio-Album „Miss Muerte“ (2004) mit „I Used To Be Pretty“ eine weitere Reinkarnation und Bestandsaufnahme. Mit Dave Alvin an der Gitarre und Bill Bateman am Schlagzeug (beide ex-The Blasters) sowie John Doe (Bass) und DJ Bonebrake (Marimba, Percussion) von X wie auch Steve Berlin am Saxophon (The Plugz, The Blasters, Los Lobos) findet die Besetzung von „A Minute To Pray A Second To Die“ von 1981 nochmals zusammen. Auf fünf der elf Tracks ist zusätzlich Julie Christensen zu hören. Etwas mehr ihrer raumgreifenden Präsenz hätte die Atmosphäre der Lieder wahrscheinlich noch mehr zum Knistern bringen können. Bei Divine Horsemen konnte Julie ihre diesbezüglichen Qualitäten jedenfalls besser zur Geltung bringen.
Sechs der Songs sind Neuauflagen alter The Flesh Eaters-Kompositionen. Dazu gibt es noch drei Cover-Versionen: „The Green Manalishi“ (1969) von Peter Green`s Fleetwood Mac, „Cinderella“ von der Garagen-Punk-Band The Sonics aus 1966 und „She`s Like Heroin To Me“ vom schon erwähnten The Gun Club-Werk „Fire Of Love“ aus 1981. Mit dem Opener „Black Temptation“ und dem Abschluss-Stück „Ghost Cave Lament“ sind zudem zwei neue Tracks enthalten. Bevor „Black Temptation“ zum giftigen, beißenden Rhythm & Blues-Kracher mutiert, wird der Track von einem abwartenden Mix aus anheimelnden Marimbaphon-Tönen, einem unbeteiligt erscheinenden Saxophon und klagendem Gesang eingeleitet. Ein immer wiederkehrendes, erdiges Blues-Schema verschafft dem Gebräu aus heißen Jazz- und krachenden Rock-Salven, das für „House Amid The Thickets“ angerichtet wird, Verschnaufpausen. Der Song agiert hier wesentlich angriffslustiger, als es die Originalfassung auf „Ashes Of Time“ (1999) vermochte. Auch die treibende Rockabilly-Punk-Hymne „My Life To Live“ gewinnt gegenüber der Version von „Forever Came Today“ aus 1982 an Schärfe und Durchschlagskraft.
„The Green Manalishi (With The Two Prong Crown)“ war 1969 einer der letzten Songs, die Peter Green für Fleetwood Mac schrieb. Der Gründer, Sänger und Gitarrist der Band litt zu dieser Zeit an den Nebenwirkungen seiner LSD-Experimente, die auch zu Albträumen und Psychosen führten. In einer Vision wurde er dafür angeklagt, dass er als Rock-Star die Bodenhaftung verloren hätte. Green folgerte daraus, dass sein Geld daran schuld sei und verschenkte einen Großteil der Ersparnisse für wohltätige Zwecke. Er zog sich daraufhin lange aus dem Musikgeschäft zurück und arbeitete zeitweise sogar als Totengräber. „The Green Manalishi“ soll also als Sinnbild für einen Dämon stehen, der in Gestalt des Kapitals auftaucht und manchen Personen durch seinen Moral zersetzenden Einfluss die Menschlichkeit raubt. Diese düstere Vorstellung beherrscht auch die Atmosphäre der Komposition, die manisch, geheimnisvoll und latent gewalttätig ist. The Flesh Eaters kehren außerdem den schamanischen Charakter des Liedes hervor und lassen den Track beschwörend und hypnotisch erscheinen.
„Miss Muerte“ ist ein Stück, das schon 2004 erschien. Der simple, aber effektiv belebende Pop-Punk entfaltet seine Ohrwurm-Qualitäten allerdings erst vollständig in der Neubearbeitung, die von dem dichteren Sound profitiert. The Sonics waren 1966 die wohl kompromissloseste, ruppigste und dreckigste Rock & Roll-Band des Planeten. Auf ihrer Platte „Boom“ war „Cinderella“ der Opener, der unmissverständlich klar stellte, dass hier mit harten Bandagen musiziert wird. Bellender Gesang, zackige, kurze Gitarrenriffs, unbarmherzige Drums und eine gleißende Farfisa-Orgel erzeugten einen rebellischen Klang, der danach schrie, laut gehört zu werden. The Flesh Eaters sind zwar redlich bemüht, den Wahnsinn des Ursprungs zu konservieren, erreichen aber nicht vollends diese wütende, bissige Besessenheit. Dennoch geht der Track heftig in die Beine.
„Pony Dress“ ist ein früher, ungeschliffener Flesh Eaters-Punk, der hier etwas gezügelt dargestellt wird, ohne dass die Ecken und Kanten der Vorlage abgeschliffen wurden. Das gehetzte „Wedding Dice“ von „Forever Came Today“ (1982) wird aktuell auch als Speed-Rockabilly mit eingeschobenen, schrägen Saxophon-Passagen interpretiert. Die Verneigung vor Jeffrey Lee Pierce fällt mit „She`s Like Heroin To Me“ ehrfurchtsvoll aus. Das tobsüchtige Element der The Gun Club-Version weicht jetzt einem relativ geordneten Blues-Punk-Takt.
Wer Platten wie „The Las Vegas Story“ (1984) von The Gun Club, „Songs The Lord Taught Us“ (1980) von The Cramps, „Somewhere Between Heaven And Hell“ (1992) von Social Distortion und „Fun House“ (1970)“ von The Stooges schätzt, der wird auch den deftigen, schnoddrigen, aggressiven, hymnischen, dunklen, jazzigen Blues-Punk von „I Used To Be Pretty“ willkommen heißen. Trotz der Aufwärmung von vielen alten Stücken ist das Werk alles andere als eine Nostalgie-Veranstaltung geworden. Im Gegenteil, die Umsetzung wurde agil, variabel, druckvoll und ausgeklügelt bewerkstelligt. Auch wenn sich das mysteriöse „The Youngest Profession“, das ursprünglich 1991 als schleichender Psycho-Blues für „Dragstrip Riot“ konzipiert wurde, melodielos im Nirgendwo verliert und das dreizehneinhalb minütige „Ghost Cave Lament“ recht konturlos und unpräzise abläuft, so passen doch alle Songs atmosphärisch gut zusammen. Chris hatte übrigens durch seine Aussage, „Ghost Cave Lament“ orientiere sich an „The End“ von The Doors die Messlatte astronomisch hoch gesetzt. Das Lied erreicht aber trotz der gelegentlichen ekstatischen Ausbrüche nicht die innere Spannung, die Jim Morrison und Co. bei ihren langen Tracks aufbauen konnten.
Dennoch ist „I Used To Be Pretty“ beeindruckend und spannend geworden. Die All-Star-Band weiß genau was sie tut. Die Musiker besitzen reichhaltige Erfahrung, so dass es ihnen leichtfällt, mit Spielfreude, Ideen und Kraft zu protzen. Einmal Rotzlöffel, immer Rotzlöffel: Chris D. klingt störrisch und unangepasst wie eh und je, aber er übertreibt es nicht mit seinem rebellischem Gehabe, denn er setzt seine grundsätzlich polarisierende Stimme so ein, dass sie zwar auf-, aber nicht abschreckt. Rock & Roll soll tot sein? Papperlapapp: Die Veteranen aus den 1980er Jahren beweisen hier und jetzt genau das Gegenteil!
Und hier ist das Video zu Black Temptation:

Erstveröffentlichung dieser RezensionThe Flesh Eaters - I Used To Be Pretty

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