Lost & Found-Portrait: Blood Oranges – Americana Deluxe.

Das Musik-Business braucht Schubladen, um Künstler und Stile einzuordnen, damit man diese unter einem griffigen Sammelbegriff besser vermarkten kann. Ende der 80er Jahre entwickelte sich aus der Verbindung von ruppigem Garagenrock mit sehnsüchtigen und geschmeidigen Country-Sounds ein neuer Trend, der noch kein Etikett besaß. Da das Flaggschiff dieser Bewegung die Band UNCLE TUPELO aus Belleville, Illinois war und deren erstes Album NO DEPRESSION hieß, wurde dieser Name auch durch Mithilfe des gleichnamigen einflussreichen Fanzines schnell zum Synonym dieses neuen Stils. UNCLE TUPELO um JEFF TWEEDY und JAY FARRAR galten von da an als Wegbereiter der später auch AMERICANA oder ALTERNATIVE COUNTRY genannten Gattung.

Was heute häufig übersehen wird, ist die Tatsache, dass es zur gleichen Zeit eine mindestens ebenso einflussreiche, wenn nicht hochkarätigere Americana-Formation gab, nämlich BLOOD ORANGES. Auch sie veröffentlichten 1990 ihr erstes Album, sie sind aber heute  fast vergessen. Ihr Spektrum war durch Einbeziehung von Folk, Country, Power-Pop und Rockabilly sogar noch umfangreicher als das von UNCLE TUPELO. Deswegen und wegen ihrer herausragenden kompositorischen und interpretatorischen Qualität verdienen die BLOOD ORANGES das Prädikat AMERICANA DELUXE. 

Blood Oranges - Wikipedia

Gegründet wurde die Band 1987 in Boston, Massachusetts, von JIM RYAN. Dessen musikalische Ausrichtung kam vom Bluegrass. Wikipedia erklärt Bluegrass so: „Sie ist eine der wichtigsten US-amerikanischen Volksmusikrichtungen und gehört zum breiten Genre der Country-Musik. Typischstes Merkmal ist das rein akustische Klangbild, das heutzutage aus Banjo, Fiddle, Mandoline, Gitarre, Dobro, Kontrabass und evtl. Gesang besteht. (…). Dabei wird abwechselnd der Vers gesungen und das Soloinstrument gespielt. (…)“. Mit dieser Vorbildung traf Jim auf den gleichgesinnten Gitarristen MARK SPENCER, der außerdem noch eine Vorliebe für Rock`n`Roll mitbrachte. Das Saiten-Duo wurde durch die Bassistin CHERI KNIGHT ergänzt. Komplettiert wurde die Formation anfangs durch RON WARD an den Drums.

Wie gesagt, 1990 erschien das 13-Song starke CORN RIVER.

Blood Oranges - Corn River (CD) | Discogs

JIM RYAN hatte über die Hälfte der Songs im Alleingang oder zusammen mit RON WARD geschrieben und sorgte durch den Einsatz seiner elektrisch verstärkten Mandoline für ein exklusives Klangbild. Der Opener POUNDING PIPES ist ein erdiger Country-Rocker, der den Instrumentalisten RYAN und SPENCER Raum zum Warmspielen bietet.

HEART OF MUD schaltet einen Gang zurück und betont die melodische Seite der Band. Bei BABY DOWN wird der Bluegrass-Liebe gefrönt. Aber nicht nach der reinen Lehre, sondern durch elektrische Gitarre und Drums aufgepeppt. Wir hören also im Kern lebendigen, gutgelaunten Country, der durch Breaks am Überkochen gehindert wird. Der stoische Rhythmus und das nach vorne gemischte Schlagzeug sorgen dafür, dass der Song alles andere als angestaubt und altbacken klingt.

Auch die Volkslieder SHADY GROVE und LITTLE MAGGIE erhalten auf gleiche Weise eine Verjüngungskur. Bei der Ballade THIEF übernimmt CHERI KNIGHT die Lead-Vocals und verzaubert durch eine andächtige intime Stimmung von der Güte, die z.B. LINDA THOMPSON erzeugen kann.

Den Mountain-Folk HIGH ON A MOUNTAINTOP, im Original von OLLA BELLE REED, veredeln sie durch verblüffende instrumentale Kabinettstückchen zu einem Mid-Tempo Country-Rock-Juwel mit Pop-Appeal.

RACEHORSE kehrt die rockige Seite der BLOOD ORANGES in den Vordergrund.

DIG A HOLE klingt für mich wie Celtic Folk mit anderen Mitteln, herunter gebrochen auf die Lebensfreude, die bei dieser Art Musik im Allgemeinen vermittelt wird. Munter stampfen auch die Country-Folk-Tunes HOUSEBOAT und INCINERATOR vor sich hin. Wie häufig bei den BLOOD ORANGES glaubt man die Songs zu kennen, so vertraut klingen die Melodien. Blues-Rock-Einflüsse werden bei WESTERN MAN verwendet und MARK SPENCER darf relativ ausladende E-Gitarren-Soli spielen. Den würdigen Abschluss bildet TIME TAKES AWAY. Wie zäher Schlamm wälzt sich der Song voran. Wuchtig donnernde Gitarren treffen auf helle Mandolineneinschübe und man hofft, der Track möge immer so weiter gehen. Leider ist nach 4:17 Minuten Schluss mit der Pracht.

Nachschlag gab es erst zwei Jahre später mit der LONE GREEN VALLEY EP.

Blood Oranges - Lone Green Valley (1992, CD) | Discogs

Neben SHADY GROVE, dass ja schon in anderer Version auf CORN RIVER enthalten war, konnte man 4 neue Songs bestaunen. Dieses Mal produziert von dem Gitarrenwunderkind ERIC AMBEL, der seine Sporen in der Band von JOAN JETT verdient hatte, dann bei den DEL LORDS groß auftrumpfte und unter eigenem Namen mächtige Gitarrenrock-Alben in der Tradition von NEIL YOUNG AND CRAZY HORSE aufnahm. Außerdem lieh er seine Künste an STEVE EARLE und etliche andere Künstler aus und ist Mitglied der All-Star Combo YAYHOOS. Ein Tausendsassa, der auch so unterschiedliche Leute wie die BOTTLE ROCKETS, NILS LOFGREN und FREEDY JOHNSTON produzierte. Wo ERIC AMBEL draufsteht, ist Qualität drin.

Hatte schon Paul Q. Kolderie als Produzent von CORN RIVER einen guten Job gemacht, indem er die Vorzüge der Bandmitglieder als brillante Instrumentalisten betonte, sie ihre musikalischen Vorlieben ausleben ließ und dem Sound keine Fußfesseln anlegte, so weiß ERIC AMBEL durch ein noch transparenteres Klangbild mit viel mehr Druck zu überzeugen. SHADY GROVE kommt dabei sehr viel aggressiver, angriffslustiger und abenteuerlicher rüber. FIRE ESCAPE überrascht durch eine schwungvolle Power-Pop-Note und die von CHERI KNIGHT gesungene und komponierte Ballade ALL THE WAY DOWN hat trotz des schleppenden Tempos gewaltig Biss. Da ERIC AMBEL weiß, wie ein perfektes Gitarre-Bass-Drums-Gespann klingen muss, überzeugt auch TIME WILL TELL als satter Rocker mit hinreißendem Background-Gesang. Der neue Drummer KEITH LEVREAULT spielt trocken und stramm und passt somit perfekt ins hart rockende Gespann.

Der Instrumentaltitel POTTERS TEAM stellt eine Verbindung von Cowpunk mit dem flirrenden, swingenden Sound von LES PAUL, dem Erfinder der E-Gitarre, her. Bei der LONE GREEN VALLEY EP passt alles zusammen: Spielfreude, kompositorische Vielfalt und eine organisch-dynamische Produktion. Aber: konnte dieses hohe Niveau konserviert und über ein ganzes Album gehalten werden?

Die Antwort darauf gab THE CRYING TREE im Jahr 1994.

Blood Oranges - The Crying Tree (1994, CD) | Discogs

Und um es vorweg zu nehmen: alle Erwartungen wurden erfüllt und sogar noch übertroffen. Ein Garant für die Qualität war wieder ERIC „ROSCOE“ AMBEL als Produzent und Gast-Gitarrist. Furios geht es mit der munter rumpelnden Up-Tempo-Nummer HALFWAY `ROUND THE WORLD los. MISS IT ALL ist genauso mitreißend und sorgt für einen weiteren positiv gestimmten Einstieg. HELL`s HALF ACRE gefällt durch einen unwiderstehlichen Ohrwurm-Refrain und geht hier als heimlicher Hit durch.

BRIDGES ist ein Pop-Song reinsten Wassers. Hymnisch, eingängig und harmonisch.

Mit über 5 Minuten ist CRYING TREE das längste Stück des Albums. Krachend, aber unaufgeregt windet sich das Stück in die Gehörgänge. Eine fordernde, leicht verzerrte Lead-Gitarre steht dabei im Vordergrund der Wahrnehmung. Dazu glänzt CHERI KNIGHT wieder mit betörend intensiver Stimme.

SALLY hat ein jazziges Intro, entwickelt sich dann aber zum poppigen Bluegrass-Tune. A SHADOW OF YOU ist eine erstklassige CHERI KNIGHT-Ballade.

Am Ende des Albums gibt es mit SHINE noch so einen Hochkaräter, der einem die Freudentränen der Verzückung in die Augen treibt. Handfester geht es bei HANDLE BREAKS zu Werke. Die Band präsentiert rustikalen Heartland-Rock. Bei ON THE RUN wird es noch eine Spur härter. Dieser aufgekratzte Cowpunk ist ein weiteres Highlight der CD. Dazwischen wurde das country-folkige THIS OLD TOWN als harmonische Versöhnung platziert. Abgerundet wird diese vielfältige Einspielung noch durch das flüchtig an Square-Dance-Rhythmen erinnernde TITANIC und HINGES, das wie ein verschollener RICHARD THOMPSON Song klingt. 

Bei THE CRYING TREE kommt also keine Langeweile auf und für alle Stimmungen ist ein Favorit dabei. Das Timing der Songs ist häufig raffiniert angelegt. Der Gesang ist dann gegenüber dem flotten Beat zurückgenommen, so dass eine besondere innere Spannung entsteht. Durch die Kombination von akustischen und elektrischen Instrumenten erhalten die Lieder einen vollen Klang, der viele Variationen ermöglicht. Die Aufnahmen wurden druckvoll produziert, auch die langsamen Nummern haben Schärfe und verströmen Optimismus und Mut. Aufgrund der instrumentellen Feinheiten entdeckt man auch nach vielfachem Hören immer wieder Neues. Leider war das dann aber der Schwanengesang der Band. Sie löste sich noch 1994 auf.

Wie auch bei UNCLE TUPELO, so waren auch die kreativen Köpfe der  BLOOD ORANGES in anderen Formationen aktiv. JIM RYAN spielte schon 1992 mit seiner Zweitband BEACON HILL BILLIES ein Album mit Bluegrass-Tracks mit dem Titel DUFFIELD STATION ein.

Beacon Hillbillies - Duffield Station (1992, CD) | Discogs

Die BEACON HILL BILLIES waren eine String-Band, das heißt es wurden (fast) nur Saiteninstrumente eingesetzt. Die Musik ist im Gegensatz zu den BLOOD ORANGES pop- und rockfrei. In ihrer Ausführung ist sie streng akademisch traditionell gehalten. Die Songs mit Gesang klingen wie aufbereiteter Appalachen-Folk, aber viele Tracks sind instrumental und dabei werden jazzige Passagen mit Country-Tunes verbunden. Sie zeigen JIM RYAN`s Ausnahmestellung an der Mandoline. Neben jungen Musikern wirkten hier auch alte Hasen wie der Banjo-Wizzard TONY TRISCHKA mit.

Dieses Projekt spielte noch zwei weitere CD`s ein: MORE SONGS OF LOVE AND MURDER (1994) und BETTER PLACE (1996).

Zwischendurch musizierte JIM RYAN noch mit JOHN McGANN, der sein Gitarren- und Dobro-Partner bei den BEACON HILL BILLIES ist, in der Irish-Folk-Formation SUNDAY`S WELL, die 1994 eine CD bei ESD rausbrachte.

1996 kam es zu einer quasi-Reunion der BLOOD ORANGES unter dem Namen WOODEN LEG.

Hier spielten neben JIM RYAN und MARK SPENCER auch der BLOOD ORANGES Drummer KEITH LEVERAULT mit. CHERI KNIGHT gastierte auf einem Song und ERIC AMBEL übernahm die Abmischung und half an der Gitarre. Und da waren sie wieder, diese Gefühle von Weite, konstruktiver Melancholie und Freiheit, die auch schon in der Musik der BLOOD ORANGES vermittelt wurden. Moderne Lagerfeuerromantik eben. Aber ohne offenes Feuer, ohne Ritt in den Sonnenuntergang. Vielmehr der Soundtrack für eine Fahrt im Cabrio durch berauschende Landschaften. Traditionelle Musikformen wie Folk, Country oder Blues treffen auf offene Ohren und werden undogmatisch mit Ideen aus allen möglichen Musik-Bereichen verkuppelt.

So harmoniert eine Roots-Rock-Gitarre prächtig mit einer akustischen Mandoline (TO THE BONE). Ein alter Folksong bekommt eine Alternative-Rock Grundierung (PRETTY POLLY). Country Harmonien werden in einem Pop-Song verarbeitet (SWEET LIES). Und es werden neue Wege ausprobiert: JIM RYAN`s Freund MARK SANDMAN (von TREAT HER RIGHT und MORPHINE) singt seine Verse in dem unheimlichen, dunklen OUT OF MY YARD über das Telefon ein. Insgesamt findet man hier die Fortführung des BLOOD ORANGES-Gedankens mit etwas mehr Pop- und Rock-Anteilen.

Danach wurde der umtriebige JIM RYAN nicht ruhiger. Er gastierte noch auf etlichen angesagten Produktionen unterschiedlicher Couleur, wie z.B. auf den CD`s von CATIE CURTIS oder auf WARREN ZEVON`s  Life’ll Kill Ya’, trat mit MARK SANDMAN unter dem Banner TREAT HER ORANGE auf, brachte zwei Solo CD`s raus und war bei diversen Session-Projekten dabei. Aber trotzdem verblasste sein Name zusehends in der ständig expandierenden Alternative Country Szene. 2019 gab es dann aber sogar noch ein Live-Album von Wooden Leg

MARK SPENCER hat keine Projekte unter seinem eigenen Namen veröffentlicht, ist aber als Session-Gitarrist für z.B.  FREEDY JOHNSTON, KELLY WILLIS, LISA LOEB, JIM LAUDERDALE, WANDA JACKSON, LAURA CANTRELL und JAY FARRAR tätig gewesen.

CHERI KNIGHT mutierte zur unglaublich selbstbewussten Komponistin und Interpretin und bewies ihr Können mit THE KNITTER im Jahr 1995.

The Knitter - Cheri Knight: Amazon.de: Musik

Diese CD wurde auch von ERIC AMBEL produziert und knüpft da an, wo THE CRYING TREE aufhörte. AMBEL adelt das Werk mit seinen kräftig zerrenden Gitarrenklängen und RAY MASON am Bass sowie der großartige Schlagzeuger WILL RIGBY (ex dB`s, auch für Steve Earle tätig) bilden das stramme Rhythmus-Gerüst. CHERI KNIGHT hat von Bass auf Gitarre umgesattelt und liefert sich mit AMBEL fantastische Zusammenspiele. Und siehe da, unter den Gästen ist wieder ein alter Weggefährte aus BLOOD ORANGES-Tagen: MARK SPENCER. Aber was letztendlich zählt, sind die Songs. Und die sind erstklassig und fast alle von ihr. Ganz exquisit sind die eingestreuten Balladen, die schon bei den BLOOD ORANGES ihre besondere Stärke waren. Aber auch die muskulösen Roots-Rocker in der Tradition von BLUE MOUNTAIN oder GO TO BLAZES sind allererste Sahne.

Von gleicher Güte ist das zweite und bisher letzte Album von CHERI KNIGHT: THE NORTHEAST KINGDOM von 1998.

Cheri Knight - The Northeast Kingdom (1998, CD) | Discogs

Es wurde unter der Schirmherrschaft von STEVE EARLE in Nashville eingespielt. Hier schließt sich vorläufig ein letztes Mal der Kreis der Verbundenheit der BLOOD ORANGES Clique. JIM RYAN und MARK SPENCER sind wieder mit von der Partie. Zur festen Band gehört auch WILL RIGBY. Als Gäste glänzen außerdem STEVE EARLE (Gitarre), TAMMY ROGERS (Fiedel) und EMMYLOU HARRIS (Gesang). Der Sound erblüht in voller Americana-Vielfalt, diesmal im Vergleich zu THE KNITTER eher akustisch ausgerichtet, aber genauso edel und faszinierend umgesetzt.

Die Musik der BLOOD ORANGES und ihrer Solo- und Nebenprojekte hat im Laufe der Jahre nichts von ihrer Vitalität, Spannung und positiver Energie eingebüßt. Leider hat das Label EAST SIDE DIGITAL, auf dem fast alle der hier angesprochenen CD`s rausgekommen sind, irgendwann mal den Vertrieb eingestellt, so dass die Sachen heute schwer zu bekommen sind. Die Suche nach all diesen Perlen lohnt sich aber auf jeden Fall für alle, die sich im Spannungsfeld zwischen BUDDY & JULIE MILLER, BOTTLE ROCKETS und STEVE EARLE wohl fühlen.


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