Lost & Found-Portrait: Television – Funkelnde Gitarren, Punk und die Schönheit der Venus von Milo.
Im Jahr 1974 tauchten im angesagten,
gammligen und heute legendären New Yorker Punk-, New Wave und Underground-Club
CBGB`s vier halb verhungert aussehende Typen auf, die 1977 mit MARQUEE MOON das
wahrscheinlich elektrisierendste, hypnotischste und aufrüttelndste
Gitarren-Rock-Album der Punk-Epoche veröffentlichen sollten. Bei den jungen
Männern handelte es sich um die Band TELEVISION, die aus den kurzlebigen NEON
BOYS hervorgegangen war. Bei den NEON BOYS spielten Gitarrist TOM VERLAINE (bürgerlich
TOM MILLER) und Schlagzeuger BILLY FICCA - die dann auch TELEVISION gründeten -
zusammen. Bassist RICHARD MEYERS (später nannte er sich RICHARD HELL), der
dritte im Bunde der NEON BOYS, war ein Jugendfreund von VERLAINE und gehörte
anfangs auch zu TELEVISION. Er stieg aber 1975 aus, nachdem die Gruppe ein
Demo-Tape für Island Records unter der Regie von BRIAN ENO aufgenommen hatte. Zunächst
spielte er bei JOHNNY THUNDERS HEARTBREAKERS um später mit einer eigenen Band,
den VOIDOIDS, sein Glück zu versuchen. TELEVISION wurden nach diesem Abgang
durch den zweiten Gitarristen RICHARD LLOYD und den ex-BLONDIE Bassisten FRED
SMITH komplettiert.
Dieses sensationelle Album kam damals in den USA nur knapp in die Billboard 200. In England erreichte es immerhin Platz 28 der Charts. Das Ansehen der Musik stieg aber im Laufe der Jahre, da sich Qualität zum Glück häufig durchsetzt. So wählte der ROLLING STONE MARQUEE MOON im Jahr 2003 auf Platz 128 der 500 „Greatest Albums Of All Time“.
Die 2003 remasterte Version wurde noch durch fünf Bonus-Titel aufgewertet. Darunter auch die erste Single und alternative Versionen von „See No Evil“, „Friction“ und „Marquee Moon“. Beim instrumentalen Track handelt es sich um eine nicht fertig gestellte Version des Songs „O Mi Amore“.
Schon 1978 schob die Band das zweite Album ADVENTURE nach. Vielleicht zu früh, wie man aus heutiger Sicht mutmaßen könnte. Denn die Platte hat nicht mehr die Dichte und einheitliche Qualität seines Vorgängers.
Die Musik ist unterm Strich ausgewogener und nicht mehr so angriffslustig, hat aber auf jeden Fall seine Reize. Die Eröffnungsnummer „Glory“ hat aufgrund seiner stoischen Beharrlichkeit neben den Standards von MARQUEE MOON Bestand und klingt fast wie eine unterkühlte Version von „Friction“. „Days“ kommt als Folk-Rock mit Pop-Überzug daher. Charmant, aber unspektakulär. Ein ungeheuer cooler Gitarren-Rocker ist mit „Foxhole“ gelungen. Das ist eine der zugleich geschmeidigsten wie auch raffiniertesten Kompositionen von TOM VERLAINE.
„Careful“
ist im Vergleich dazu nur ein netter Song mit deutlichen, sonnigen
Sixties-Pop-Referenzen. Gruppen wie die TURTLES fallen als Referenz dazu ein. Bei
„Carried Away“ will die Melodie nicht zünden, so dass der balladeske Pop-Song
orientierungslos vor sich hin dümpelt. Auch THE FIRE, ein schleppender
Pop-Rocker mit einer Gitarrenlinie, die an eine singende Säge erinnert, kommt
nicht richtig aus dem Quark. Mit „Ain`t That Nothin`“ wird dann wieder Fahrt
aufgenommen. Beeinflusst von den ROLLING STONES erinnert dieser Track an „Brown
Sugar“ von STICKY FINGERS (1971). Abschließend gibt es mit „The Dream`s Dream“
eine über lange Strecken instrumentale Nummer, die sich in atmosphärischem
Geplänkel verliert. Die 2003er Wiederveröffentlichung enthielt noch vier
Bonustracks. Wunderlicherweise auch einen Track mit Namen „Adventure“, der
bisher ignoriert wurde. Das ist ein gradliniger Rock & Roll-Boogie mit
Glam-Rock-Bezug. Dann gibt es noch die Single-Version von „Ain`t That Nothin`“,
eine frühe, rauere Variante von „Glory“ und als versteckten Song noch eine
weitere, diesmal instrumentale, fast 10minütige „Ain`t That Nothin`“-Fassung.
Noch im Jahr
1978 brach TELEVISION aufgrund von Spannungen zwischen TOM VERLAINE und RICHARD
LLOYD auseinander. Beide Gitarristen nahmen eine Solo-Karriere auf, während
FRED SMITH wieder bei BLONDIE einstieg. Auch BILLY FICCA blieb dem
Musik-Business treu. Er spielte z.B. für NONA HENDRYX, THE WASHINGTON SQUARES,
THE WAITRESSES und SHANE FAUBERT.
Erst 1991 kam es zu einer Reunion der Kapelle. In der Zwischenzeit kursierten ein paar Live-Aufnahmen aus den Anfangsjahren, von denen THE BLOW UP unter der schlechten (Kassettenrecorder)-Aufnahmequalität leidet.
Aber mit LIVE AT THE OLD WALDORF, SAN FRANCISCO, 6-29-78 gibt es ein Dokument, das die Bühnenqualität des Quartetts sehr gut beleuchtet.
Die aus der Wiedervereinigung resultierende, 1992 erschienene Platte trug schlicht den Namen der Band und wurde tatsächlich in Originalbesetzung, also mit VERLAINE und LLOYD an den Gitarren, verwirklicht.
Deren Riffs kommen frisch aus den Startlöchern und die Musik klingt, als wäre die Zeit seit ADVENTURE stehen geblieben. Einzig der Rhythmus wurde leicht modernisiert, so dass er auffällig aus den Boxen dringt. „1880 Or So“, der Eröffnungs-Track, macht den Eindruck, als wäre er ein Outtake aus einem frühen TOM VERLAINE-Solo-Album. Der Gesang ähnelt LLOYD COLE und fein sowie diffizil gesetzte Gitarren erzählen romantisch-schöne Geschichten. Die Gitarrenspuren pendeln zwischen linkem und rechtem Kanal und sind stilistisch kaum einzuordnen. „Shane, She Wrote This“ ist ein salopper psychedelischer Mid-Tempo-Rocker, der mit Eleganz vorgetragen wird. Hier zeigt sich, dass TELEVISION ohne Probleme mit den neuen Gitarrenbands der 90er Jahre konkurrieren konnte. Sie wirken lebendig, druckvoll und spannend. „In World“ erinnert hinsichtlich seiner leicht kantigen, eckigen Beschaffenheit an die frühen TALKING HEADS und „Call Mr. Lee“ wäre auch auf MARQUEE MOON nicht unangenehm aufgefallen.
Die flirrenden Gitarren-Soli schaffen es wieder, sowohl
JOHN CIPPOLINA von QUICKSILVER MESSENGER SERVICE wie auch RICHARD THOMPSON
Revue passieren zu lassen. „This Tune“ ist eine verzwickte, verkantete Komposition
mit undurchsichtiger Melodieführung, die genau dadurch ihren Reiz bezieht. Dann
ist da noch „No Glammer For Willi“, eine gemächliche Pop-Nummer mit originellem
Solo, dass man so zuletzt bei „Show Me The Way“ von PETER FRAMPTON gehört hat. Und
„Beauty Trip“ sorgt durch einen satten Boogie-Blues-Rock-Einschlag, der mit
einem verführerischen New Wave-Rhythmus versehen wird, für Aufmerksamkeit. Nicht
überzeugen kann „Rhyme“, ein ruhiges, atmosphärisches Stück mit gesprochenem
Text, das sich wie ein Lückenfüller anhört. Den Abschluss der Platte bildet „Mars“,
das mit teilweise ungewohnt wütendem, irrem Gesang versehen ist und eine
zerfaserte, unattraktive Melodie hat. Unterm Strich ist das Album ein würdiger
Nachfolger von ADVENTURE. Es transportiert die Talente der Bandmitglieder überzeugend
in einen aktuellen Kontext.
Leider war
1993 schon wieder Schluss mit dem Neuanfang und bis heute hat es kein weiteres
Lebenszeichen gegeben. Und das, obwohl die Bandmitglieder nicht grade durch
übermäßige Produktivität aufgefallen sind. Die Musiker von TELEVISION würden
sicher auch aktuell einen Weg finden, im Musikgeschehen Fuß zu fassen und dabei
nicht wie Fossile zu klingen. Folgende Konstellation wäre vorstellbar und
wünschenswert: DAVID BYRNE (ex-TALKING HEADS) übernimmt die Produktion des
Albums und bringt zusätzliche Afro-Funk-Elemente ein. Außerdem fungiert RICHARD
THOMPSON als Gast-Gitarrist. Das ist leider nur ein Traum. Aber manchmal können
Träume ja auch wahr werden.
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