Lost & Found-Portrait: Richard & Linda Thompson.

Wir schreiben das Jahr 1966. Es ist ein Jahr vor dem "Summer Of Love" und der große Umbruch in der populären Musik hatte begonnen. Klassische Musikstile wie Folk, Blues und Country verschmolzen mit Elementen aus Rock, Psychedelic und Avantgarde. Diese Verbindung von alten und neuen Werten brachte in den USA Meisterwerke wie "Pet Sounds" von den Beach Boys, Dylan`s "Blonde On Blonde", "Forever Changes" von Love und "The Doors" zutage. Auch in England wurden die starren Strukturen der konservativ ausgerichteten Folk-Szene aufgebrochen.

Dreh- und Angelpunkt dieser Bewegung waren Musiker aus dem Londoner Vorort Muswell Hill, die sich unter dem Namen FAIRPORT CONVENTION zusammenfanden. Sie spielten neben Eigenkompositionen unter anderem traditionelle Folk-Songs mit elektrischen Instrumenten und Lieder ihrer amerikanischen Vorbilder wie z.B. Bob Dylan oder Joni Mitchell. Einer der Gitarristen von FAIRPORT CONVENTION war  der erst 17jährige RICHARD THOMPSON. Dieser reifte schnell zu einem außergewöhnlichen Komponisten und Instrumentalisten heran. 

Ende 1970 wurde ihm das FAIRPORT CONVENTION-Umfeld zu eng, weil er seine Ideen in der hochkarätig besetzten Band nicht voll umsetzen konnte. Er probierte sich noch bei der Rock & Roll-Hommage "The Bunch" und der traditionellen Folk-Einspielung "Morris On" aus, die beide mit ehemaligen Fairport-Mitgliedern besetzt waren, bevor ebenfalls 1972 seine erste Solo-Platte "Henry The Human Fly" erschien. Bei den Aufnahmen dazu lernte der Luxus-Gitarrist auch seine spätere Ehefrau Linda Peters (eine Freundin der Fairport-Sängerin Sandy Denny) kennen. 
Richard Thompson at 70: on love, loss and being a Muslim in ...
Das Paar stellte eine ideale Verbindung dar: Richard lebte seine kompositorische Kreativität in fesselnden, raumgreifenden Songs mit ausdrucksstarker Gitarrenbegleitung aus und Lindas Stimme gab den Liedern eine melancholische Grundstimmung, die die oft bittersüßen Melodien veredelte. Erstes Ergebnis dieser Verbindung war 1974 das Album "I Want To See The Bright Lights Tonight". 
I Want To See The Bright Lights Tonight von Richard Thompson ...
Über dem massiven Rhythmusteppich von Pat Donaldson (Bass) und Tim Donald (Drums) breitete Richard sein singendes, phantasievolles Gitarrenspiel aus. Linda sang (die meisten) Lieder in ihrer dunklen, aber dennoch kraftvollen Art. Das Song-Material war noch wesentlich stärker als die letzten, schon großartigen Fairport-Songs. Die Fusion aus Folk, Rock und eigenen Ideen zu einem neuen Ganzen wurde weiter vorangetrieben. 

Für den Hörer war nicht unbedingt zu unterscheiden, ob es sich um alte Melodien in neuen Arrangements oder um neues Material mit klassischen Folklore-Wurzeln handelte. Herzzerreißende akustische Balladen wie "Withered And Died", "Down Where The Drunkards Roll", "Has He Got A Friend For Me", "The End Of The Rainbow" und "The Great Valerio" bilden das Kernstück der Aufnahmen. Daneben stehen Midtempo-Songs der besonderen Art wie "When I Got To The Border" und das Titelstück. Und dann ist da noch das Wunderwerk "The Calvery Cross" mit meisterhaften elektrischen Gitarren-Fills, welches im Konzert immer über 10 Minuten ausgespielt wurde, ohne dass der Spannungsbogen abbrach. 
Neben den Thompsons brachten begnadete Begleitmusiker wie Simon Nicol (Dulcimer) und John Kirkpatrick (Akkordeon) sowie die CWS (Manchester) Silver Band noch dezente, intelligente Einschübe mit diversen Blas- und Tasteninstrumenten ein. Kommerziell war die Platte für Island-Records-Verhältnisse ein Flop. Sie ging im damaligen Überangebot unter, wird aber bis heute von Kritikern hoch geschätzt.

Noch im selben Jahr erschien noch "Hokey Pokey"
Richard & Linda Thompson - Hokey Pokey - hitparade.ch
(= ein Slang-Ausdruck für billiges Speise-Eis), das im Vergleich zum Vorgänger etwas traditioneller ausfiel, aber nichtsdestotrotz einige geniale Lieder enthielt (z.B. "I`ll Regret It All In The Morning", "Never Again", "Old Man Inside A Young Man" und "A Heart Needs A Home"). 
"Pour Down Like Silver" von 1975 bildete auf höchstem Niveau einen weiteren Höhepunkt. 
Richard & Linda Thompson: Pour Down Like Silver (CD) – jpc
Songs wie "For Shame Of Doing Wrong" und "The Poor Boy Is Taken Away" sowie die ausladenden Kompositionen "Night Comes In" und "Dimming Of The Day / Dargal" sprechen da mit ihrer opulenten, tiefgreifenden Schönheit für sich.
Privat gab es bei dem Paar nach der Veröffentlichung einen Wendepunkt, denn sie schlossen sich einer muslimischen Sufi-Kommune an und verschwand erstmal von der Bildfläche. 2007 erschien mit "In Concert November 1975" noch ein eindrucksvolles Live-Dokument dieser kreativen Hochphase inmitten des Scheidungskrieges.
In Concert November 1975 von Richard Thompson & Linda auf Audio CD ...
1976 wurde als Lückenbüßer die Zusammenstellung "Guitar / Vocal" mit unveröffentlichtem und rarem Material unter Richards Namen nachgeschoben.
Richard Thompson - (Guitar, Vocal) A Collection Of Unreleased And ...
Ein Jahr später verliefen neue Aufnahme-Sessions des Paares so chaotisch, dass Chris Blackwell von Island Records den Plattenvertrag kündigte.

Erst 1978 erschien wieder ein Richard & Linda Thompson-Werk. Es hieß "First Light",
Richard & Linda Thompson - First Light | Veröffentlichungen | Discogs
gefolgt von "Sunnyvista" (1979).
Richard & Linda Thompson - Sunnyvista | Veröffentlichungen | Discogs
Beide waren gut, aber lange nicht so zwingend und bewegend wie die ersten drei Platten des Ehepaares.

1982 kam dann das finale Album "Shoot Out The Lights" auf den Markt, welches musikalisch wieder an die Glanzzeiten anknüpfte.
Shoot Out the Lights - Richard Thompson, Linda: Amazon.de: Musik
Aber für Richard und Linda bedeutete es einen heftigen privaten Einschnitt. Nach quälenden Auseinandersetzungen vor und während der Studioarbeit trennten sich ihre Wege.

Richard Thompson ist bis heute musikalisch aktiv und hat jede Menge phantastische Musik veröffentlicht (z.B. "Amnesia" (1988), "Rumor And Sigh" (1991) oder "!3 Rivers" (2018). 2002 spielte er sogar wieder auf einer der seltenen, aber exquisiten Veröffentlichungen seiner ex-Frau mit ("Fashionably Late").
Linda Thompson - Fashionably Late (2002, Vinyl) | Discogs

Die Thompsons haben mindestens mit ihren ersten drei Veröffentlichungen und mit "Shoot Out The Lights" zeitlose Klassiker geschaffen. Die emotionale Tiefe der Songs ist zeitlos und nicht anders als magisch zu bezeichnen. Als Einstieg in die musikalische Welt von Richard & Linda Thompson eignet sich die Compilation "The End Of The Rainbow" mit einem Überblick über die Frühphase hervorragend.


  

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