Lost & Found-Portrait: Günter Ramsauer – Das Leben als Mixtape.
Das war schon lange überfällig. Da habe ich einen langjährig musikjournalistisch tätigen Kollegen und Freund, der auch als Buchautor tätig ist und ich habe es lange versäumt, auf Spurensuche zu gehen und die Hinter- und Beweggründe seines Handelns aufzudecken. Aber dafür ist LOST AND FOUND ja da. Schon 2014 ist sein zweites Buch erschienen und das nehme ich zum Anlass, seinen Werdegang aufzudecken.
Günter, spulen wir
zurück zum Anfang. Wie hast Du als Kind Musik aufgenommen und erlebt? Wurde bei
Dir zuhause musiziert oder haben Dich Deine Freunde musikalisch beeinflusst?
„Zuhause musiziert wurde bei uns nicht, dafür durfte ich in meiner
Kindheit dem deutschen Schlager der 50er und 60er Jahre lauschen. Ich erinnere
mich noch gut daran, wie mein Vater am Wochenende mit dem Cassetten-Recorder
vom Radio die neuesten Hits aufnahm, denn Vinyl-Singles und Langspielplatten
waren nur in Ausnahmefällen mit dem Haushalts-Budget zu bestreiten. Obwohl
niemand ein Instrument spielte, wünschte ich mir als Kind von sechs oder sieben
Jahren eine kleine Gitarre, auf die ich dann eindrosch und Schlager vor der
Verwandtschaft sang. Wenn ich daran heute zurückdenke amüsiert mich das sehr,
denn ich trug bei meinen ‚Auftritten‘ kurze Lederhosen und einen Tirolerhut.
Mein damaliger Favorit war „Ich kauf mir lieber einen Tirolerhut“ von Billy Mo.
Mit etwa zwölf Jahren entdeckte ich schließlich den Hard-Rock und meine erste
selbst gekaufte Vinyl-LP war „Deep Purple In Rock“, es folgten Uriah Heep,
Black Sabbath usw. sowie einige Krautrock-Platten. Mit 15 Jahren lernte ich
dann zwei Freunde kennen, mit denen ich bis heute in Kontakt geblieben bin. Von
ihnen wurde ich ganz entscheidend musikalisch sozialisiert. Sie machten mich
mit Bob Dylan, Neil Young, Van Morrison, Grateful Dead, The Allman Brothers
Band und vielen anderen bekannt. Ich begann dann Dylan-Songs auswendig zu
lernen, kaufte mir Gitarre und Blues Harp und spielte mehr schlecht als recht
Dylan-Songs nach. Bis heute ist Bob Dylan mein favorisierter Künstler
geblieben.“
Du hast Dir ein
riesiges Spektrum an musikalischen Vorlieben angeeignet. Durch welches Ereignis
oder welchen Künstler wurde Dir bewusst, dass Du hinter die Fassaden blicken
wolltest und das Musik eine wichtige Rolle in Deinem Leben einnehmen soll?
„Beides trifft zu, es waren sowohl Ereignisse als auch Künstler. In
der Pubertät sah ich im TV wie Eric Burdon & War „Tobacco Road“ performten,
da war ich sozusagen angefixt. Wie dann Bob Dylan Lyrics und Musik verknüpfte
ließ mich aufhorchen und dass seine Texte auch ohne Musik im Stande waren,
diese unglaubliche poetische Kraft zu entfalten. Ende der 70er, Anfang der 80er
war es Punk und New Wave, die innere und äußere Veränderungen nach sich zogen.
Vor allem setzten sie bei mir frei, dass Musik auch in roher und einfacher Form
funktioniert. Damals herrschte das Denken vor, dass nur Musiker, die Noten
spielen können und technisch versiert sind, eine Daseinsberechtigung haben.
Punk hat damit aufgeräumt. Und mich ermutigt erste Plattenkritiken zu
verfassen, das war plötzlich möglich, an allen Ecken und Enden tauchten die
sogenannten Fanzines auf. Punk und New Wave haben in mir eine unheimliche
Energie freigesetzt, die Luft brannte damals förmlich, sogar in der schwäbischen
Provinz. Die Fassaden, die Du ansprichst, waren sozusagen am Bröckeln und der
Blick wurde freier. Jeder konnte es nun wagen dahinter zu blicken, jedoch:
‚Many are called, but few get up‘, um die guten alten Man zu zitieren. Im
Nachhinein glaube ich, dass es ein Vorteil war, der sogenannten 78er Generation
anzugehören. Die Strömungen der Hippies waren noch greif- und spürbar und die
Punk/New Wave Explosion traf voll ins Bewusstsein der damals um die 20 Jahre
alten Generation. Dadurch war es möglich in viele musikalische Richtungen zu
blicken und sein Spektrum nach und nach zu erweitern.“
Punk und New Wave
haben neuen Schwung in die Musiklandschaft gebracht. In den oft verpönten 80er
Jahren haben dann aber Drum-Computer und sinnentleerte Texte Einzug in die
Charts gehalten und viele hochangesehene Künstler haben in dieser Phase ihre
schwächsten Alben veröffentlicht. Wie hast Du die 80er Jahre erlebt? Konntest
Du die beschriebene Entwicklung nachvollziehen oder hast Du Dir neue Musikstile
erschlossen?
„Ich fand die 80er gar nicht so schlecht wie sie immer gemacht
werden. In „Songs To Remember“ halte ich ein Plädoyer für das Jahrzehnt und
liste am Ende 100 Gründe (Platten) auf, die 80er zu lieben. Natürlich war
damals in den Charts fast nur noch Blödsinn zu finden, dagegen war die
Underground-, Alternative- und Independent-Szene in voller Blüte, außerdem
fielen die ersten Americana-Vorboten in dieses Jahrzehnt. Meine alten Helden
Bob Dylan, Neil Young und Van Morrison enttäuschten mich, wobei die Zeit hier
Wunden geheilt hat und mein jetziges Wiederhören der 80er Dylan-Platten nicht
alle, aber einige Songs rehabilitiert hat. Außerdem waren die 80er das
Jahrzehnt von Nick Cave, der eine unglaubliche Entwicklung genommen hat und für
mich einen neuen Singer/Songwriter-Stil kreiert hat. Und Interpreten wie The
Go-Betweens, Lloyd Cole & The Commotions, The Smiths, Prefab Sprout,
Violent Femmes und viele andere sorgten für frischen Wind und hinterließen
nachhaltige Spuren. Nicht zu vergessen Richard & Linda Thompson, Elvis
Costello und Marianne Faithfull, die meiner Meinung nach die 80er entscheidend
mitgeprägt haben. An neuen Stilen fand ich No Wave und Post-Punk interessant,
wobei man sich hier die Rosinen herauspicken musste.“
Deine Ausführungen
bringen mich zu einer grundsätzlichen Frage: Was muss Musik (ein Song, ein
Künstler) haben, damit der Funke bei Dir überspringt? Wie trennst Du die Spreu
vom Weizen? Gibt es überhaupt objektive Kriterien, die Qualität von Musik zu
messen oder ist am Ende doch alles nur „Geschmackssache“?
„Gute Frage! Gleichzeitig auch eine schwer zu beantwortende. Für
mich muss der Musik ein Zauber, eine Magie innewohnen oder mich innerlich
aufwühlen. Oder sie muss mich in Bewegung bringen, etwas in mir auslösen. Das
kann eine hart rockende Punkplatte, ein poetisches Singer/Songwriter-Album,
Sweet Soul oder Rocksteady Music sein. Dabei kann es passieren, dass bestimmte
Platten nur für den Moment gut sind, andere scheinen wie gemacht für die
Ewigkeit. Ob das ganze messbar ist? Natürlich lassen sich bestimmte – mehr oder
weniger objektive – Maßstäbe anlegen, letztlich ist entscheidend, wie sehr
einen die Musik berührt. Ich würde mich als emotionalen Hörer bezeichnen, wenn
keine Emotion – welche auch immer – bei mir ankommt, kann ich mit der Musik nichts
anfangen.“
Lass mich noch eine
Einschätzungsfrage nachschieben: Kann Musik die Welt oder das Individuum
ändern? Was hälst Du davon, wenn Lieder Botschaften vermitteln? Wie wichtig
sind Texte heute überhaupt noch?
„Ich finde Texte nach wie vor wichtig, obwohl die meisten Sachen,
die ich höre in Englisch sind und allem kann ich, was die Lyrics betrifft,
nicht nachgehen. Dennoch glaube ich, dass Texte nicht alleine über das bloße
Verstehen wahrgenommen werden, sondern auf einer tieferen Bewusstseinsebene.
Selbst ein in Chinesisch gesungenes Lied kann so „verstanden“ oder besser
„erfühlt“ werden. Die Botschaft wird somit über die Verbindung Musik-Text
transportiert. Von plakativen Botschaften oder dem allzu offensichtlichen
Protestsong halte ich allerdings nichts. Bob Dylan – sorry, wenn ich immer
wieder auf ihn zurückkomme – hat sehr früh erkannt, dass man mit dem bloßen
Protestsong in eine Falle tappt, obwohl ich seine frühen Aufnahmen, seine
sogenannten Protestsongs liebe, weil er es verstanden hat, ihnen mit seiner
Stimme Emotion und Leben einzuhauchen. Ob Musik Welt und Individuum verändern
kann? In einer gewissen Weise würde ich dem zustimmen. Ich glaube aber nicht,
dass ein US-Soldat nach einem Antikriegs-Lied seine Waffe niederlegen wird,
einen Denkanstoß kann es ihm dagegen geben, es hängt natürlich auch vom Typ,
von der Bereitschaft des Soldaten ab. Im Kleinen können Songs das Individuum
durchaus verändern. Musik kann einen in eine völlig andere Stimmung tauchen als
die vorige, das kann jetzt jeder für sich als kleine oder große Veränderung
ansehen. Für mich ist Musik so wichtig wie die Luft zum Atmen!“
Die Wichtigkeit der
Musik in Deinem Leben lässt sich auch in der Deiner Biographie ablesen. Seit
Anfang der 80er Jahre bist Du journalistisch tätig. Die 90er Jahre halten
einige Überraschungen in Deinem Lebenslauf bereit. Du hast die Vorlage zu einem
Super 8 Film geliefert und einen Roman geschrieben, der nicht veröffentlicht
wurde. Wie kam es dazu und warum liegt der Roman auf Eis?
„In den 80ern bin ich eigentlich eher vom Schreiben über die Musik
abgekommen, das Fanzine für das ich geschrieben habe, war nach einigen Nummern
am Ende. Ich veröffentlichte einige Gedichte und Geschichten in kleinen
Verlagen, das hat mich damals mehr interessiert. Die Musikszene habe ich
dennoch mit großem Interesse weiterverfolgt. Die Vorlage für den Super 8 Film
war eine Kurzgeschichte, die unveröffentlicht geblieben ist, aber bei einigen
Menschen auf Interesse gestoßen ist, die damals in der Stuttgarter Filmszene
involviert waren und so kam es zu dem kleinen Filmchen, das wiederum eine Rolle
in meinem neuen Buch „Songs To Remember“ spielt, ebenso wie der
unveröffentlichte Roman. Ich hatte ihn damals ausschließlich an große Verlage
geschickt, die alle ohne Begründung ablehnten. Der Roman entstand im Zeichen
der von mir damals geschätzten Pop-Literatur und dem von mir verehrten Thomas
Bernhard, mit dem ich mich natürlich nicht messen kann. Musik spielt darin auch
eine große Rolle, ich versuchte gar den Rhythmus von „Sister Ray“ (The Velvet
Underground) damit einzufangen, ob mir das allerdings gelungen ist, wage ich zu
bezweifeln. (Ich muss grinsen). Ich
müsste den Roman eigentlich mal wieder lesen um zu sehen ob der vor meinem
eigenen Urteil im Hier und Heute bestehen könnte, da bin ich mir ziemlich
unsicher.“
Das Konzept zu Deinem
ersten Buch hört sich sehr vielversprechend an. Dein erstes veröffentlichtes
Buch „Das Insel-Alben-Buch, 100 Highlights
der Pop-Musik-Kultur 1961-2002“ von 2004 geht aber wohl eher in eine andere
Richtung. Ich würde das Prinzip als Infotainment bezeichnen. Beschreibe doch
mal, welche Idee dahintersteckt und nach welchen Kriterien Du Deine sicher
umfangreiche Sammlung gesichtet hast, um 100 Referenzwerke auszuwählen?
„Mit Infotainment ist das trefflich formuliert! Die Idee war
natürlich, meine 100 Favoriten zusammenzustellen und dabei auf lockere Art
meine Begeisterung an den Leser/Hörer zu vermitteln. Die Auswahl fiel nicht
leicht, meine Sammlung ist in der Tat sehr umfangreich und schnell hatte ich
mehr als 150 Alben ausgewählt und es ist mir unheimlich schwer gefallen viele
nicht berücksichtigen zu können, zumal es auch immer von der jeweiligen
Tageslaune abhängt und ich an dem Buch fast zwei Jahre gearbeitet habe. Somit
fiel immer mal die eine raus und die andere rein usw. Die Kriterien waren: Nur
ein Album eines Interpreten, keines vor 1960 und das Ende auf 2002 fixiert,
weil ich 2004 die Langzeitwirkung miteinfließen lassen wollte. Wichtig war mir
auch, unbekannte Künstler, sogenannte Alternativen, Independents und
Außenseiter mit ins Buch zu nehmen, weil sie in meinem Musikuniversum eine
große Rolle spielen und sie ansonsten fast nie in solche Bücher bzw. Listen
mitaufgenommen werden. Dabei müssen sich The Dream Syndicate, Lambchop oder
M.Hederos & M.Hellberg keineswegs hinter den üblichen Verdächtigen
verstecken.“
Gib doch mal ein
Beispiel dafür: Welches Album, das nach 2002 erschienen ist, würdest Du nach
heutigem Stand warum in einer Fortsetzung aufnehmen?
„Da gibt es natürlich wieder jede Menge: Cat Power, Simon Joyner,
Nick Waterhouse, Michael Kiwanuka, The Wave Pictures und The Great Crusades
wären unter den Kandidaten. Ich wähle mal ganz spontan von den Great Crusades
„Four Thirty“ aus, weil es eine unglaubliche Trash-Rock’n’Roll Energie und die
Geister von John Lee Hooker und Captain Beefheart transportiert. Immer noch
unterschätzt diese Vierer-Bande aus Chicago.“
In diesem
Zusammenhang: Welchen Musikern, die erstmalig ab dem neuen Jahrtausend veröffentlicht
haben, traust Du zu, zu Klassikern der Pop-Geschichte zu reifen?
„Da bleiben von den oben Genannten Nick Waterhouse, Michael
Kiwanuka und The Wave Pictuers übrig. Hinzu kommen
Bill Callahan, Hobotalk, Hiss Golden Messenger, The Deep Dark Woods, Laura
Marling und Josh T. Pearson.”
Kommen wir zu Deinem
neuen Buch „Songs To Remember, Geschichten aus der Zwischenwelt im Delta der
Fußnoten, Vol. 1“. Hier kombinierst Du in Kurzgeschichten Erdachtes und
Erlebtes. Als Basis dienen Dir Songs, deren Inhalte Du mit den Erzählungen
verbindest. Wie kam es zu dieser Idee? Magst Du verraten, wie viel Prozent
Erlebtes in den Geschichten steckt?
„Nach dem „Insel-Alben-Buch“ dachte ich, dass nun ein Buch mit
meinen favorisierten Songs folgerichtig wäre. Darauf hin begann ich etwa drei
Titel auszuwählen und stellte fest, dass diese mit vielen Erinnerungen
einhergehen. So entstand ein völlig neues Konzept und die Songtexte
integrierten bzw. verknüpften sich manchmal wie von selbst mit den Geschichten.
Es ging nun gar nicht mehr um favorisierte Songs, sondern um solche, die mit
Ereignissen und Erinnerungen verbunden sind. Plötzlich stand die Idee
Pop-Literatur mit Pop-Journalismus zu kreuzen im Raum, eine Idee, die mich
reizte und herausforderte. Die Basis der Geschichten beruht immer auf
tatsächlich Erlebtem, wobei alleine schon die Erinnerung verfälscht bzw.
trügerisch ist oder nur verschwommen daherkommt. Als sich dann beim Schreiben
eine Art Flow einstellte, kam quasi von ganz alleine das Erdachte und das
Fiktive ins Spiel. Dies nun in Prozenten auszudrücken fällt nicht leicht, weil
es von Geschichte zu Geschichte variiert. Ich versuche es mal anhand von zwei
Geschichten: „Blut auf dem Film-Skript“ hat ca. 80% Wahrheitsgehalt, „Das
Mixtape und die Mädchen“ dagegen etwa 40%.“
Wem würdest Du die
Lektüre des Buches empfehlen? Transportierst Du eigentlich eine Botschaft mit
dem Inhalt?
„Ich würde das Buch allen Musikliebhabern und Menschen, die etwas
für Pop-Literatur übrig haben, empfehlen. Aber auch Andere können dem Buch
etwas abgewinnen, so war bspw. die Lektorin des Buches zunächst skeptisch, weil
sie weder zu der einen noch der anderen Gruppe gehört. Sie fand es dennoch
interessant und lesenswert, weil die
Geschichten auch lebensnahe Inhalte transportieren. Mit der Absicht eine
Botschaft zu vermitteln, habe ich das Buch nicht geschrieben, ich denke, es
stecken dennoch einige indirekte Botschaften mit drin. Auf einen Nenner
gebracht: Die Kraft der Musik und deren Einfluss aufs wirkliche Leben und
umgekehrt, das würde ich im Nachhinein als Botschaft oder auch als Kern von
„Songs To Remember“ sehen.“
Apropos: Immer spannend und unterhaltsam ist der Blog von Günter Ramsauer:
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