Tanya Tagaq - Retribution (2016)

Kaum zu bewerten: Das ist Musik für hartgesottene, furchtlose Entdecker mit Hang zu außergewöhnlich schrägen Sounds.
Die Welt ist ein Dorf, wenn es darum geht, inwieweit kulturelle Eigenheiten eine globale Verteilung erfahren haben. So hat schon die barbarische Sklaverei zur Vermischung von afrikanischen und lateinamerikanischen Rhythmen geführt und letztlich den Blues in den USA ermöglicht. Tuvenische Obertonsänger, australische Didgeridoo und Hawaii-Gitarren sind längst in vielen Liedern und unterschiedlichen Weltmusikverbindungen ebenso zu finden und selbstverständlich wie afrikanische Trommeln und asiatische Gongs.
Tanya Tagaq: Retribution (CD) – jpc
Mit Tanya Tagaq Gilles fügt sich eine Inuit aus dem kanadischen Norden mit ihrer Kunst und dem auffälligen Kehlkopfgesang in den experimentellen Pop-Zirkus ein. Die Frau wurde hauptsächlich durch die Zusammenarbeit mit Björk bekannt, mit der sie ab dem Jahr 2000 vier Jahre lang auf Tournee war. Außerdem ist sie auf ihrem Album „Medulla“ (2004) zu hören. „Retribution“ ist das fünfte Solo-Werk von Tanya und zeigt die unerschrockene Frau mit Klängen, die außergewöhnlich und gewöhnungsbedürftig sind. „Ajaaja“ taucht wie aus einer fremden Welt auf. Die verwendeten Stammesgesänge ähneln denen, die von nordamerikanischen Indianern bekannt sind. Diese Eindrücke gehen in das Titelstück über, bei dem Text rezitiert und von animalisch anmutenden Tönen begleitet wird, die beschwörend, gespenstisch, schwindelerregend, ekstatisch, fremdartig, psychotisch und bissig sind.
Bei „Nacreous“ kommt mehrstimmiger Kehlkopf- und Obertongesang zum Einsatz, der gruselige Effekte, die zum Horror-Klassiker „Der Exorzist“ passen würden, produziert. Das zerrt extrem an den Nerven und ist nichts für zarte Gemüter. Dem Track fehlt jegliche Melodie, er besteht nur aus Geräuschen und menschlichen Lauten, die allerdings völlig sonderbar und verrückt klingen. Für „Aorta“ wird dieses Klangerlebnis noch mit einem monotonen Rhythmus unterlegt. „Centre“ bindet HipHop und Rap in diesen urwüchsigen, avantgardistischen und schockierenden Schallwirbel ein, der auch Tonstrudel voller Stimm-Akrobatik berücksichtigt. Tanya begleitet das Tongedicht auch mit herkömmlichem Gesang, so dass das Ergebnis zu einem experimentellen Indie-Rock-Weltmusik-HipHop-Stück wird. „Summoning“ fängt die öde Wildnis der Heimat der krassen Sängerin mit Naturaufnahmen ein, die durch kratzige Saitentöne und tonalen wie auch erschreckenden, wortlosen Sing-Sang unterlegt werden. Dieses Hörspiel steigert sich in den knapp neun Minuten orgiastisch und ist mindestens so schwer zu verdauen wie der „Gesang der Jünglinge im Feuerofen“ von Karlheinz Stockhausen.
Textzitate begleiten „Cold“. Im Hintergrund vernimmt der Hörer Geräusche, die irgendwie mit dem Leben in Eis und Schnee zu tun haben. Knurrig-brummender Kehlkopfgesang und ein jazziger Schlagzeug-Rhythmus sorgen dafür, dass aus der Textvertonung noch ein Musikstück wird. Als ruhiges, kurzes Zwischenspiel mit kindlich-mädchenhaften Stimmen und Gesängen bringt „Sivulivinivut“ etwas Frieden in den Ablauf. Würgender, kreischender Kehlkopf- und Obertongesang, kratzige Geigen, monotone, maschinenhafte Synthesizer-Einwürfe und trötende Bläser bilden das unheimliche Klangbild von „Sulfur“. Das wirkt sehr eigenwillig und verstörend. Die Cover-Version des Nirvana-Songs „Rape Me“ ist nicht unbedingt sofort als solche zu erkennen. Dieser Track ist jedoch eher als konventioneller Song und nicht als Experiment angelegt: Der Gesang ist sirenhaft, die Atmosphäre bedrückend und der Takt folgt der desillusionierenden Stimmung monoton.
So extrem und unbändig die Musik ist, so dringlich und brutal sind auch die Themen, für die sich Tanya Tagaq einsetzt. Sie protestiert gegen Umweltzerstörung, denn z.B. wird durch Fracking der Lebensraum der Inuit und der Tiere in Kanada zerstört. Außerdem fordert die Künstlerin die Rechte der Ureinwohner ein, denn es wurden unter anderem bisher schon hunderte von Inuit-Frauen verschleppt und ihr Verbleib blieb ungeklärt. Deshalb fordert die Aktivistin Vergeltung und nutzt die Kunst, um auf schreckliche Schicksale und grobe Ungerechtigkeiten hinzuweisen. Die Anliegen von Frau Gilles sind also höchst respektabel. Aber so ehrenhaft und wichtig die Bemühungen auch sind: Wird die streitbare Künstlerin mit ihren sehr anspruchsvollen, provokanten Sounds - die sich eigentlich einer objektiven Bewertung entziehen - auch die Aufmerksamkeit erreichen, die ihre Angelegenheiten verdient hätten?

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