Chris Stamey – Lovesick Blues (2013)



Wunderschöner, erhabener, sepia-farbener Pop für Erwachsene

Im Laufe seiner langen Karriere hat CHRIS STAMEY aus North Carolina seinen Horizont ständig erweitert: er spielte Mitte der siebziger Jahre aufmüpfigen Punk-Pop mit den SNEAKERS, revitalisierte den Power-Pop in den 80er Jahren mit den dB`s und schuf ab den 90er Jahren weitere zeitlose Musik zwischen Country Folk, Experiment, Garagen-Rock und ausgeklügeltem Pop unter eigenem Namen. Außerdem ist er ein begehrter Sideman und Produzent. Sein Name bürgt auf allen Produktionen, die er begleitet hat, für Qualität.


Mit LOVESICK BLUES hat er jetzt vielleicht sein reifstes, aber auf jeden Fall sein friedvollstes Werk abgelegt. Der Titel leitet sich nicht vom gleichnamigen HANK WILLIAMS Honky-Tonk-Country-Song ab, auch ist hier kein Blues zu hören. Der Blues steht hier für ein Lebensgefühl. Für eine gewisse Nachdenklichkeit, die mit Geschichten aus der Welt der zwischenmenschlichen Gefühle angereichert wird. Bei LOVESICK BLUES handelt es sich um ein Album voll von wunderschönem, erhabenem, sepia-farbenem Pop für Erwachsene. CHRIS STAMEY probierte, den Sound abzubilden, den er nachts in seinem Kopf hört. Er erklärt, dass es bei ihm immer die leisen Töne sind, die für ihn in der Dunkelheit die eindringlichste Wirkung haben. Die Musik vermittelt den Anschein, als hätte er Frieden mit seinen Dämonen geschlossen. Wenn es denn welche waren, die ihn umgetrieben haben. Bei der Entstehung dachte er an Alben wie THE BALLAD OF TODD RUNDGREN oder BRYTER LAYTER von NICK DRAKE, die ihm zu gegebener Zeit Trost gespendet haben. 

Dementsprechend ist der Klang von LOVESICK BLUES warm und vollmundig. Das verwendete Instrumentarium umfasst auch Bläser, Streicher, Flöte, Oboe und einen Chor, sogar ein ganzes Orchester. So werden vielfach kammermusikalische Elemente und psychedelische Effekte eingebaut. Sie bleiben aber willkommene Beigaben und dominieren nicht das Geschehen. STAMEY versuchte, seinen Bruder im Geiste, ANDY PARTRIDGE von XTC, zu einem Gesangsduett zu überreden. Der lehnte jedoch ab und so blieb es bei Vorschlägen für die Arrangements und die Produktion.

Es gibt bei jedem Track etwas Besonderes zu entdecken. SKIN geht wahrlich unter die Haut. Der Song kann nicht nur durch eine grandiose Melodie punkten, sondern überzeugt auch durch Gänsehaut erzeugenden Instrumenteneinsatz. Eine klagende Oboe und ein funkelndes kurzes Akustik-Gitarren-Solo veredeln die Komposition. JULIAN COPE hat früher (z.B. auf FRIED) ähnlich geklungen. LONDON ist ein Musterbeispiel für ein magisches, nebelverhangenes, mysteriöses Lied. CHRIS STAMEY hat sich anscheinend intensiv mit der britischen psychedelischen Pop-Musik beschäftigt, zumindest finden sich hierfür einige Verweise auf dem Album. ASTRONOMY verbeugt sich vor PINK FLOYD der SYD BARRETT-Phase. Bei THE ROOM ABOVE THE BOOKSTORE grüßt der Erzählstil des großen Neo-Psychedelikers ROBYN HITCHCOCK. Beim Titelstück scheint die Zeit gedehnt zu werden. Das Gitarrensolo am Ende der 7 Minuten erinnert an WISH YOU WERE HERE von PINK FLOYD. Auch ANYWAY, WINTERTIME und I WROTE THIS SONG FOR YOU verbreiten eine sanfte, blumige Athmosphäre. YOU N ME N XTC ist der Hit des Albums. Der Song könnte tatsächlich aus der Spätphase der britischen Pop-Exzentriker XTC stammen. Bei OCCASIONAL SHIVERS gibt es einen erfrischenden Kontrast zwischen flächigem Vibraphon und aufrüttelnder E-Gitarre und IF MEMORY SERVES bildet den beatlesken Abschluss des Song-Reigens.

STAMEY`s Kunst war es schon immer, eingängige Songs mit Tiefgang zu schreiben. Dies zelebriert er hier auf einem unglaublichen Kreativitäts-Level. Die erlesenen Kompositionen weisen keine Schwachstellen auf, alles ist stimmig, organisch und reif. Der ausgeglichene Gesang verpasst allen Songs, egal welche Geschwindigkeit sie haben und welche Stimmung sie transportieren, eine erhabene Würde und eine unverwechselbare Note. Der Reiz besteht aus der Kombination von Erfahrung, Talent und Forscherdrang. STAMEY sucht nach dem perfekten Pop-Song, nach einem Ausdruck, der seine Gefühle beschreibt und diese für andere transparent macht. LOVESICK BLUES ist dieses Vehikel, das einen gestandenen Künstler am Scheitelpunkt seines Schaffens zeigt. Der heute 58jährige Musiker hat es nicht nötig, irgendjemandem noch etwas zu beweisen. Er konzentriert sich voll und ganz auf sein Können und seine Leidenschaft. Das Album ist purer Seelenbalsam und zählt auf jeden Fall jetzt schon zu den Favoriten des Jahres, da kann kommen was will.



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