Harry Nilsson - The RCA Albums Collection (2013)

Umfangreicher Überblick über die wichtigsten Stationen eines Ausnahmetalentes.
The Rca Albums Collection - Harry Nilsson: Amazon.de: Musik
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Als Harry Nilsson im Jahr 1967 seinen Plattenvertrag bei RCA unterschrieb, war er schon kein Unbekannter mehr. Seine Nebentätigkeit als Auftragskomponist hatte ihm u.a. Jobs für Little Richard und Phil Spector eingebracht. Sein erstes Album „Pandemonium Shadow Show“ landete durch die Empfehlung des Pressemanagers der Beatles, Derek Taylor, bei den Fab Four. Nilsson hatte im Song „You Can`t Do That“ 23 Beatles-Lieder in einem Medley zu einem neuen Song zusammengeschustert. Die Beatles waren so von ihm angetan, dass sie Nilsson öffentlich als Lieblingsmusiker bezeichneten. „Aerial Ballet“ und „Harry“ etablierten ihn als Songwriter und Interpret. Hier findet man solch erlesenen, zeitlosen Songs wie die Ballade „One“, die selbst auf „Pet Sounds“ der Beach Boys ein Highlight gewesen wäre, so gut ist sie. „Nilsson Sings Newman“ zeigt ihn in Begleitung von Randy Newman am Piano. Die sparsam instrumentierten Newman-Lieder gewinnen durch Nilssons Gesang zusätzlich an Kontur, wodurch ihr Pop-Potential zutage gefördert wird. Sein nächstes Projekt war die Vertonung des Zeichentrickfilms „The Point!“. Das Ganze ist wie ein Hörspiel aufgenommen, wobei die Wortbeiträge innerhalb der Songs gewöhnungsbedürftig sind. Neuland betrat er mit „Aerial Pandemonium Ballet“, dem wohl ersten Remix-Album der Musikgeschichte, zusammengestellt aus Tracks seiner ersten beiden LPs.
Die nächsten drei Alben nahm Nilsson in London auf, „Nilsson Schmilsson“ und „Son Of Schmilsson“ mit feinen, prominent besetzten Bands. So wurde er von George Harrison und Ringo Starr begleitet. Bei den Sessions wirkten außerdem solche Cracks wie Lowell George von Little Feat, der Pianist Nicky Hopkins und Drummer Jim Gordon mit. „A Little Touch Of Schmilsson In The Night“ zeigt ihn mit sehr pompösen Liedern, die mit einem großen Orchester eingespielt wurden.
Nach einer harten Zeit, die von Alkohol- und Drogenexzessen geprägt war, war seine Stimme ruiniert. Er hatte mindestens eine Stimmbandentzündung, die ihn völlig verändert klingen ließ. Es hält sich aber auch hartnäckig das Gerücht, dass nicht Harry das Album „Pussy Cats“, eingesungen habe, sondern John Lennon. Die Gesangsspuren sollen technisch so verändert worden sein, dass das Ergebnis als Nilssons Stimme durchging. Das Album ist zwar unter Beatles-Fans begehrt, hält aber dem hohen Standard der anderen Produktionen nicht stand. Nilssons Alben von 1975 bis 1977 fanden bedauerlicherweise keine große Beachtung mehr. Aber es lohnt sich sehr, sie neu zu entdecken. Und das nicht nur, weil der großartige Van Dyke Parks einige Aufnahmen begleitet und inspiriert hat. Die 3 CDs mit Outtakes, Alternativ-Versionen, Demos und anderen unveröffentlichten Fundstücken erfreuen das Herz des Sammlers zusätzlich.
Die 17 CD-Box umfasst die wichtigsten Arbeiten in der Karriere von Harry Nilsson und umspannt die Jahre 1967 bis 1977. Die CDs sind jeweils mit Bonus-Material ausgestattet und tontechnisch bestens überarbeitet worden. Sie befinden sich in LP-Covern nachempfundenen Hüllen, häufig sogar in Klapp-Cover-Nachbildungen. Das Set wird durch ein informatives, reich bebildertes 48-seitiges Booklet abgerundet. Damit hat man fast die gesamte Lebensleistung von Harry Nilsson komplett. Es fehlen nur frühe Singles, einige Soundtrack-Beiträge und das Album „Flash Harry“, das er 1980 für Mercury einspielte. Die Aufnahmen für sein letztes Album „Papa`s Got A Brown New Robe“ beendete er am 15. Januar 1994. In der folgenden Nacht starb er an Herzversagen. Die Songs blieben bis heute unveröffentlicht. Die angeblichen Vorkommnisse vor seiner geplanten Bestattung am 18. Januar passen zu seinem skurrilen Leben und Wirken. Am 17. Januar gab es in Los Angeles ein Erdbeben. Harrys Sarg soll daraufhin in einer Erdspalte verschwunden sein. Das ist der Stoff, über den er vielleicht einen Song geschrieben hätte.
Nilsson hatte die Gabe, kreativ aus der gesamten Musikhistorie zu schöpfen. Diverse Querverweise mixte er zu einem prickelnden Cocktail zusammen. Er hatte ausgerechnet mit Fremdkompositionen seine größten Hits, nämlich mit „Everybody`s Talking“ vom Folkie Fred Neil und dem schmachtenden „Without You“, im Original von Badfinger. Sein Medium war aber die LP. Hier konnte er sich in teils schwelgerischen Arrangements ausgiebig ausleben. Er konnte Stile wechseln und kombinieren wie es ihm gefiel und sich so seine eigene musikalische Welt weiträumig gestalten. Diese entsprach häufig nicht der aktuellen Mode und dem Zeitgeist.
Harry war im Grunde ein Geschichtenerzähler alter Schule. Er konnte großmäulig oder bescheiden erscheinen. Manchmal war er albern, dann wieder ernst und wissend. Er kam mal derbe, mal sinnlich oder auch sarkastisch rüber. Seine oft eingängigen Songs sind mit sonderbaren Ideen, Drehungen, Wendungen, putzigen Klängen und versponnenen Chören gespickt. Über allem gleitet seine sehr gut ausgebildete, der jeweiligen Stimmung optimal angepasste, variable Stimme. Sein Gesang war unangestrengt, wandlungsfähig, klar und manchmal nicht frei von Pathos, wenn es denn sein musste. Er war mit einem einnehmend zarten Schmelz ausgestattet, der als Schmiermittel für den Pop-Himmel funktionierte. Je nach Bedarf konnte er zu Tränen rühren, aufwühlen, verwundern, beschwören oder sich einschmeicheln. Er erschloss sich damit ein riesiges Spektrum an Emotionen. Die empfindsamen, oft komplexen Arrangements pendeln zwischen Broadway und Pop-Charts. Ausschläge in Richtung Klamauk, Kunst, Karibik, Klassik, Kirmes und Kitsch sind da inbegriffen. Er war ein außergewöhnlicher Individualist und Tüftler vom Niveau eines Brian Wilson oder Burt Bacharach.
Jetzt kann die kalte Jahreszeit mit seinen langen, dunklen Abenden kommen. Man hat mit der Box einen wirkungsvollen Ausgleich gegen das bevorstehende trübe Wetter, denn Harry Nilssons Musik erwärmt nach wie vor das Herz.

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